Die Zeiten der Klarheit sind längst vorbei. Wer heutzutage komponiert, sieht sich mit einer Vielzahl von divergierenden Eindrücken konfrontiert, die ihm die immer kleiner und mobiler werdende Welt anbietet. Das kann eine Last sein, aber auch eine Chance, aus der Pluralität der Möglichkeiten zu schöpfen. Osvaldo Golijov lebt seit Jahren diese Offenheit und empfindet sie als eine der Herausforderungen seiner Biografie. Seine Eltern stammen aus Osteuropa, er selbst wuchs in Argentinien auf, lebte eine Zeit lang in Israel und hat sich nun in Massachusetts nieder gelassen. Seine Musik ist das Konzentrat zahlreicher Impulse und Erlebnisse, die ihn auf seinen Reisen beeindrucken und führen zu einem motivischen Reichtum, der ihn in der Meinung der Spezialisten und des Publikum zu einer der wichtigen neuen Persönlichkeiten der internationalen Musikszene hat werden lassen. Und er ist ein Meister der emotionalen Zwischentöne, dessen Aufnahme “Oceana” sich dem Mysterium des emphatischen Klangs eindrucksvoll nähert.
Das Meer ist ein Sinnbild für Unendlichkeit, für Kraft und Unberechenbarkeit, im Kern für die Größe an sich, die sich in seiner Erscheinung manifestiert. Es war daher auch das passende Motiv, als sich Osvaldo Golijov von rund einem Jahrzehnt darüber klar werden sollte, wie er eine bei ihm in Auftrag gegebene Würdigung Johann Sebastian Bachs für die Serie “Cantatas of the Americas” klingen lassen wollte, die der deutsche Dirigent Helmut Rilling für das Bach-Festival an der Universität von Oregon bestellt hatte. Der Thomaskantor auf der einen Seite, der Dichter Pablo Neruda auf der anderen, aus diesem Beziehungsgeflecht sollte “Oceana” entstehen, was für dem Komponisten durchaus eine nahe liegende Verbindung war: “In ‘Oceana’ wollte ich, wie Bach, Leidenschaft in Geometrie verwandeln, Wasser und Sehnsucht Licht und Hoffnung, die überwältigende Natur Südamerikas und seinen ungeheuren Schmerz in rein musikalische Zeichen verwandeln”.
Es entstand eine siebenteilige Suite für Stimme, Chor und um Gitarre, Bass und Perkussion ergänztes Orchester, die auf der Basis eines Poems der Sammlung “Cantos ceremoniales” von 1961 eindrucksvoll den Bogen von feiner Motivarbeit bis zum Pathos des großen Ensembles spannt. Im Zentrum steht dabei die facettenreiche Stimme der brasilianischen Sängerin Luciana Souza, deren interpretatorische Kompetenzen weit über die Klassik hinaus bis in die Musica Popular Brasileira reichen und die daher ein faszinierend buntes Ausdrucksspektrum zur Verfügung hat. Die Uraufführung der “Oceana” wurde 1996 ausführlich gefeiert, für die Aufnahme fand sich Souza acht Jahre später mit zwei Chören und Solisten in der Symphony Hall von Atlanta ein, um dem knapp halbstündigen Werk sein Form für CD zu geben.
Doch damit nicht genug. Osvaldo Golijov, der im vergangenen Jahr einen Grammy für die beste zeitgenössische Komposition erhielt, zählt zu den Künstlern, die ständig mit geschärfter Wahrnehmung durch die Welt ziehen. Als er beispielsweise im September 2000 kurz hintereinander zwei irritierende Erlebnisse hat – zunächst das schlagartige Ausbrechen der Gewalt in bei einem Aufenthalt in Israel und eine Woche später den Besuch im New Yorker Planetarium, der die Erde von der Ferne als friedlichen blauen Planeten darstellte – inspirierte ihn das zu einem kurzen, aber intensiven Streichquartett, das diese beiden Pole der Sinneseindrücke in Musik fasste. Für die künstlerische Umsetzung konnten die Klanggrenzgänger des Kronos Quartets gewonnen werden, die “Tenebrae” mit der für sie typischen Nachdrücklichkeit einspielte.
Als Abrundung des CD-Programms “Oceana” schließlich wählte Golijov noch seine “Three Songs” aus, die ebenfalls kurz nach der Jahrtausendwende entstanden und ihn mit seiner bevorzugten Gesangspartnerin zusammenbrachten. Denn Dawn Upshaw war es bereits, die dazu beitrug, dass “Ainadamar – Fountain of Tears” 2006 den Grammy für die “Best Classical Contemporary Composition”. Und sie ist es wieder, die aus den drei Liedern ein Mysterium des Klangs werden lässt.