Wenn man Understatement messen könnte, dann würde er wahrscheinlich alle Rekorde brechen. Kein Künstler von Weltrang, und das ist Murray Perahia ohne Zweifel, hat so wenig Star-Allüren, ist so durch und durch Mensch geblieben wie dieser außerordentliche Pianist.
Perahia stellt sich nie ins Zentrum. Er wahrt immer die Form. Wo andere durch große Gesten auf sich aufmerksam machen, verschwindet der US-amerikanische Sympathieträger lieber in der zweiten Reihe und rückt seine Krawatte zurecht. Dabei ist sein Stilbewusstsein alles andere als kokett. Es ist seine zweite Haut. Es kommt von innen, und nach außen wirkt es wie ein diskreter Fingerzeig. Die ganze Erscheinung dieses Künstlers deutet schon darauf hin, wie er Klavier spielt.
Seine Eleganz, seine Weltgewandtheit, seine berührende Noblesse fließen in sein Klavierspiel ein und lassen es zu jenem einzigartigen Erlebnis werden, nach dem es Liebhabern emotionaler Klaviermusik verlangt. Dieser “zauberhaft zeitlos wirkende junge 70-Jährige”, als den ihn das NDR im Vorjahr aus Anlass seines runden Geburtstags portraitiert hat, holt das romantische Zeitalter in unsere Gegenwart, lässt es vor unseren Augen neu erstehen.
Mit Beethovens impulsiver Hammerklaviersonate und der melancholisch fließenden Mondscheinsonate hat er sich für sein neues Album kontrastreiches Repertoire ausgesucht, das wie kaum ein anderes von den emotionalen Extremen der Romantik zeugt. Einerseits hört man hier Träumereien, zarte, intime Meditationen. Andererseits kommt man in den Genuss von Beethovens wilden Ekstasen, seinem grenzsprengenden Temperament. So erlebt man auf diesem Album die ganze Fülle der romantischen Sehnsucht.
Dazu gehört selbstredend auch der Drang ins Freie, die Lust, sich loszureißen und ohne jeden Zwang Neuland zu entdecken. Beethoven liebte die Improvisation. Er setzte sich gern ans Klavier und legte einfach los. “Mit seinen Improvisationen”, so Murray Perahia, “rührte Beethoven die Menschen zu Tränen.” Das gelingt auf seinem neuen Album auch Perahia, der die improvisatorisch anmutenden Passagen der Hammerklaviersonate so cool, mit einer so atemberaubenden Lässigkeit spielt, als stammten sie von ihm selbst.
Perahia hat sich die Hammerklaviersonate, die mit hohen technischen Hürden gespickt ist, im wahrsten Sinne des Wortes zu eigen gemacht. Er hat sich ein Leben lang mit diesem Werk befasst, und jetzt gehört es ihm, jetzt kann er nach Perahia-Art damit verfahren. Nach Perahia-Art, das heißt: formbewusst, die Gefühlslawinen eindämmend, ohne ihre Wucht zu schwächen. Perahia geht mit ergreifender Würde durch dieses monumentale Werk.
Es ist, als wollte er uns zeigen, dass jedes Gefühl, jede menschliche Regung Schönheiten birgt, die Klang annehmen können. Beethoven hatte seine ganze Seele in diese Komposition gelegt: Begeisterung und Aufbruch, Macht und Ohnmacht, Trauer und Schmerz, alles, wirklich alles, was das Leben ausmacht, hat er in diese Sonate gepackt, und Perahia zeichnet jeden Strich dieses großen Seelenportraits nach.
Mit der Mondscheinsonate betritt Perahia vertrautes Gelände. Hier braucht er nicht zu erobern, hier kann er seinem lyrischen Temperament folgen. Erstaunlich ist, wie energisch er den träumerischen Kopfsatz spielt. Auch im schweifenden Loslassen, so scheint er zu sagen, steckt Kraft. Und diese Kraft entlädt sich dann schrittweise, bis Perahia sie in einem wilden Ritt des Schlusssatzes exzessive Dimensionen annehmen lässt.