Die armenische Komponistin und Pianistin hat ein Werk neu interpretiert, das ihr sehr am Herzen liegt,
ein Adagio, das einst allein Tomaso Albinoni zugeschrieben wurde
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»Die pulsierenden Oktaven und die atemberaubende Melodie dieses Stücks berühren mich tief.
Sie spiegeln sowohl Liebe wie Verlust, Freude wie Trauer.«
Marie Awadis
Eine mysteriöse Verwechselung verbirgt sich hinter der jüngsten Einspielung von Marie Awadis. Die armenische Komponistin und Pianistin, die im September einen Exklusivvertrag bei Deutsche Grammophon unterzeichnete und ihr DG-Debütalbum Études Mélodiques vorlegte, veröffentlicht nun Remo Giazottos (1910–1998) beliebtes Adagio in g-Moll für Klavier solo in einer eigenen Bearbeitung. In der Beschäftigung mit der Musik kam sie mit Alessandro Giazotto in Kontakt, dem Enkel des Komponisten. Er kannte die Geschichte hinter diesem Werk, das lange dem Barockkomponisten Tomaso Albinoni zugeschrieben wurde. Er wusste auch, welche Aufnahme des Adagios seinem Großvater am meisten gefiel. Awadis’ Stück erscheint am 15. November 2024 digital in der DG-Reihe Winter Calm, die sich durch leise, meditative Klangwelten zeitgenössischer klassischer Komponisten auszeichnet.
Notizen des 2017 verstorbenen Physikers Adalberto Giazotto gaben Aufschluss über die Geschichte: Er hatte dokumentiert, dass sich sein Vater, der Musikwissenschaftler, Kritiker und Komponist Remo Giazotto, ab 1941 der Erforschung von Albinonis Leben und Werk widmete. Remo verschrieb sich der Arbeit, sammelte Stoff aus Bibliotheken ganz Europas und veröffentlichte trotz Kriegsdienst und schwerer Malariaerkrankung 1945 eine Biografie über den Komponisten. Doch erst als er seine Unterlagen wegordnen wollte, stieß er auf ein Manuskript aus der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden mit einer viertaktigen Melodie und einem bezifferten Bass.
Dieses Fragment, so Adalberto, nutzte Remo und verarbeitete die Noten »mehr zum Spaß« zu einem geschlossenen Werk, wobei er die Art von Übung aufgriff, die er aus seiner Studienzeit kannte. Danach verschwand die Partitur und geriet in Vergessenheit. Und jetzt kommt Alessandro ins Spiel.
Sein Großvater, dem er sehr nahestand, erzählte ihm von einem Konzert seines Freundes Ennio Gerelli im Jahr 1949. Gerelli hatte die Komposition auf Remos Klavier entdeckt, war fasziniert davon und borgte sich die Noten. Er »überraschte« ihn mit einer Aufführung der Musik, doch im Programmheft war sie nicht Remo zugeschrieben, sondern Albinoni, mehr zum Schock als zur Freude des tatsächlichen Urhebers.
Aufnahmen folgten, doch die Verwirrung über die Urheberschaft blieb, selbst als der Verlag Ricordi sie klarstellte. Remo jedoch war nicht verbittert über die falsche Zuschreibung, vielmehr war er, dass seine Biografie und das Adagio dazu beitrugen, nicht nur Albinoni, sondern italienische Barockmusik schlechthin vor einem Schattendasein zu bewahren.
Und er verglich die unterschiedlichen Aufnahmen. »Für ihn war die beste Einspielung und Interpretation des Adagios in g-Moll die der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan«, sagt Alessandro, »ein Album von Deutsche Grammophon.«
»Dieses Werk hat mich schon als Kind in den Bann gezogen«, sagt Marie Awadis. »Als ich die Gelegenheit bekam, mein eigenes Arrangement zu schaffen, empfand ich tiefe Verantwortung – nicht nur weil es so berühmt ist, sondern auch weil es eine persönliche Bedeutung für mich hat. Anstatt existierende Klavierfassungen aufzugreifen oder zu versuchen, das auf seine Weise vollkommene Original für Streicher und Orgel zu überflügeln, habe ich mich auf das Wesen des Stücks fokussiert und ihm eine eigene emotionale und musikalische Perspektive gegeben.«
Und sie ergänzt: »Dadurch dass ich dem Enkel von Giazotto während dieses Prozesses begegnet bin, schätzte ich den Komponisten umso mehr. Zu wissen, dass ihm die DG-Einspielung von Karajan am meisten am Herzen lag, macht es zu einer Ehre, mein eigenes Arrangement beim Gelblabel zu veröffentlichen. Es kommt mir vor, als schließe sich ein Kreis.«
Nicht anders ergeht es Alessandro Giazotto: »Als ich Marie Awadis kennenlernte, hatte ich sofort das Gefühl, dass sie meinem geliebtem Großvater charakterlich, geistig und auch in ihrer Bescheidenheit gleicht. Als ich dann ihr Arrangement des Adagios hörte, musste ich sofort an Remo denken, wie er am Klavier sitzt und seine Gefühle in die Tasten legt. Ich liebe den Anfang von Maries Arrangement, so introspektiv und überirdisch, mit Referenzen an das Thema. Überhaupt, wie elegant sie das Thema mit ihren Noten ummantelt, das macht es besonders und fast mystisch. Wunderschön und sehr modern! Es hat mich wirklich berührt.«