Es war bestimmt kein Zufall, dass Leonard Bernstein mit den Wiener Philharmonikern genau die vier Symphonien von Jean Sibelius aufnahm, die bereits Serge Koussevitzky in den Dreißigern auf Schellacks festgehalten hatte. Denn die Verehrung für seinen früheren Mentor hielt ein Leben lang an und veranlasste den Dirigenten, auch als er selbst schon berühmt war, sich immer wieder auf sein Vorbild zu beziehen.
Insofern ist die Sibelius−3CD-Box mit den Aufnahmen von vier Sibelius-Symphonien, einer Variation von Edward Elgar und vier “Sea Interludes” aus Benjamin Brittens “Peter Grimes” nicht nur ein ausgezeichnetes musikalisches Dokument, sondern eine späte Verbeugung vor Koussevitzky, ohne den Bernstein wohlmöglich eine ganz andere Laufbahn eingeschlagen hätte.
Jean Sibelius (1865–1957) war ein eigenartiger Kauz. Erst komponierte er Tongedichte wie die “Finlandia” (1899/1900) und kommentierte sie blumig mit großen Worten wie: “Wir haben 600 Jahre für unsere Freiheit gekämpft, und ich durfte der Generation angehören, die sie errungen hat! Meine Finlandia erzählt davon, sie war unser Kampflied, das zur Siegeshymne wurde!”. Dann wurde er von Volk und Presse zum Nationalkomponisten empor stilisiert, und bekam vom finnischen Staat ein lebenslanges Stipendium zugesprochen, das ihm weitere heroische Kompositionen ermöglichen sollte. Doch Sibelius wandte sich von seinen früheren Intentionen ab, beharrte darauf, dass er nie bewusst volksmusikalische Weisen in seine Werke einbezogen hätte und das er überhaupt schon gar keine Programmmusik machen würde. Seine Kompositionen seien nur der Musik verpflichtet, hieß es in späteren Stellungnahmen, und nur als solche verständlich. Mag sein, dass ihm nach den Rummel des Fin-de-Siècles und der Katastrophe des Ersten Weltkrieges die Lust am Nationalen vergangen war. In jedem Fall zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück und hörte 1929 gar ganz mit dem Komponieren auf. Sein Werk allerdings war bereits stattlich genug, dass die Zeitgenossen sich daran abarbeiten konnten. Und seine sieben Symphonien gehören zu den großen spätromantischen Klangmonumenten, dem Geiste Mahlers und Bruckners verpflichtet und doch in der Ausarbeitung von markanter Eigenständigkeit.
Für Leonard Bernstein war es eine Herausforderung, sich an die Orchesterwerke von Sibelius zu wagen. Zwischen 1986 und 1990 stand er in regelmäßigen Abständen am Pult der Wiener Philharmoniker, um sich den Werken des eigensinnigen Finnen zu widmen. Den Anfang machte die fröhliche und durch eine Italienreise des Komponisten inspiriert vergleichsweise leichte “Symphonie Nr. 2, D-Dur, op. 43” (1902), die Bernstein im Oktober 1986 vor laufenden Mikrofonen aufführte. Ein Jahr später folgte die “Symphonie Nr.5 in Es Dur, op. 82” (1915), die dem Komponisten selbst nur mit reichlich Selbstzweifeln an der Überkommenheit der Form von der Hand gegangen war. Als nächste nahm sich Bernstein die “Symphonie Nr.7 in C-Dur, op. 105” (1924) vor, zu der Sibelius notiert hatte “Lebensfreude und Lebenskraft mit appassionato-Zutaten. Drei Sätze, der letzte ein hellenisches Rondo”. Schließlich wandte er sich ein halbes Jahr vor seinem letzten Konzert im August 1990 der ersten Symphonie zu, die noch zu Zeiten der “Finlandia” entstanden war und dementsprechend deutlich mit Stimmungen und angedeuteten Bildern arbeitete. So war der Zyklus im Bernsteinschen Sinne komplett und ist nun im Rahmen der “Collector’s Edition” in einer 3 CD-Box wieder zugänglich.