Das Album “Carmen” der lettischen Akkordeonistin Ksenija Sidorova steckt voller Überraschungen, denn die Musik strotzt nur so vor lateinamerikanischen, asiatischen, europäischen und nordamerikanischen Einflüssen und präsentiert eine unwiderstehliche Mischung aus kontrastreichen Klangfarben und mitreißenden Rhythmen. Die leise Melancholie, die stets den Klang des Akkordeons umweht, steht in einem reizvollen Kontrast zu den expressiven Ausbrüchen, die harmonische Vielschichtigkeit setzt der musikalischen Phantasie keine Grenzen. Ksenija Sidorova nähert sich Georges Bizets Oper “Carmen” vollkommen ohne Berührungsängste und verwebt die bekannten Ohrwürmer mit eigenen kreativen Ideen, die sich scheinbar völlig organisch aus den ursprünglichen Kompositionen ergeben und die Musik zwar in einem erfrischend neuen Licht erstrahlen lassen, sie aber zugleich nie verfremden. Mit “Carmen’s Walk”, einer eigenen Interpretation der berühmten Habanera “L’amour est un oiseau rebelle”, eröffnet Ksenija Sidorova das Album – und man taucht sogleich ein – in die fabelhafte Welt der Carmen – und in den eigenwilligen Klangkosmos der Ksenija Sidorova. Die unbefangene Freude am ästethischen Spiel mit der Musik zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Album.
Ksenija Sidorova hat sich für ihr Album mit dem Percussionisten Itamar Doari, dem Gitarristen Reentko Dirks und dem Pianisten Michael Abramovich sowie dem neunköpfigen Ensemble “Nuevo Mondo”, bestehend aus Flöte, Klarinette, Saxofon, Trompete, Posaune, Harfe, Geige, Cello und Kontrabass, und dem kompletten Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Sascha Goetzel viele Verbündete eingeladen, die sie auf ihrer abenteuerlichen musikalischen Reise begleiten und viele eigene unterschiedliche Klangfarben beisteuern. “In the Cards” und “Toreador” swingt das Ensemble “Nuevo Mondo” zwischendurch so elegant und leichtfüßig, dass man sich in einen Jazzclub versetzt fühlt, introvertierte Passagen unterbrechen jedoch immer wieder die ausgelassene Stimmung und schaffen Kontraste, die sich auch in Bizets Oper wiederfinden und die von den Musikern eindrucksvoll mit ihrer eigenen musikalischen Sprache zum Ausdruck gebracht werden.
In “Reflections” schwelgt das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra in fragmentarischen Erinnerungen, in “La Siesta” entführt die Gitarre einleitend die Ohren ins sonnige Spanien. Im “Love song” interpretiert die Klarinette mit unendlicher Zärtlichkeit die Arie des Don José “La fleur que tu m’avais jetée”, die Violine umspielt die Solostimme mit liebevolle musikalischen Gesten. Dann übernimmt das Akkordeon und bereichert das Arrangement um weitere sehnsuchtsvolle Klangfarben. Obgleich das Album rein instrumental ist, hat man doch immer wieder verblüffend den Eindruck, dass die Instrumente singen.
Ksenija Sidorovas künstlerischer Erfindungsreichtum geht Hand in Hand mit Bizets musikalischen Ideen aus dem Jahr 1875. So baut das Album nicht nur eine Brücke quer durch multikulturelle Musikstile, sondern auch eine Brücke über die Jahrhunderte bis ins Hier und Jetzt.
Glücklicherweise kann man Ksenija Sidorova mit ihrem außergewöhnlichen Projekt auch live erleben. Neben konzertanten Ausflügen in die Kammermusik in diesem Sommer, gemeinsam mit anderen spannenden, jungen Kollegen wie Miloš Karadaglić, Andreas Ottensamer oder Avi Avital, ist sie mit “Carmen” am 13. Juli beim Jurmala Festival in Lettland und am 19. August beim Ravinia Festival in den USA zu Gast.