Hans Werner Henze gehört zu den ambivalenten Komponistenpersönlichkeiten der Gegenwart. Aufgewachsen unter dem Eindruck des Nationalsozialismus' avancierte er in den Fünfzigern zum Favoriten der musikalischen Bildungsbürger, vollzog daraufhin eine Politisierung in Richtung Marxismus, schrieb sogar ein Oratorium für Che Guevara, um spätestens seit den Achtzigern wieder zu gemäßigteren Formen gedanklicher und musikalischer Avantgarde zurückzukehren. Im Jahr 2002 überschritt er mit seiner “Sinfonie Nr.10” die magische Neunzahl des romantischen Beethovenmythos, Friedemann Layer hat sich für Accord dem Werk zusammen mit dem Orchestre National de Montpellier angenommen.
Hans Werner Henzes Künstlerleben hatte bereits viele bewegende Stationen. Am 1. Juli 1927 in Gütersloh geboren, wuchs er in eine finstere Epoche der deutschen Kulturgeschichte hinein und musste die Erfahrung machen, dass alle die Gestalten, die er als musikinteressierter Teenager verehrte, von der Obrigkeit verfemt oder gar verfolgt wurden. Dadurch entstand eine tiefe Skepsis gegenüber jeder Form von institutionalisierter Autorität, die seine spätere künstlerische Entwicklung nachhaltig beeinflusste. Er studierte bei René Leibowitz und Wolfgang Fortner, war zunächst Leiter des Deutschen Theaters in Konstanz (1948/49), dann des Balletts am Wiesbadener Stadttheater. Über die Darmstädter Ferienkurse wurde er auf den Serialismus aufmerksam, ließ seine eigenen neo-klassizistischen, von Hindemith und Stravinsky beeinflussten Klangvorstellungen davon aber nur partiell berühren. Im Jahr 1953 zog Henze nach Italien, komponierte Opern wie “König Hirsch” (1953–56) und zahlreiche weitere Werke verschiedener Gattungen.
Während der folgenden eineinhalb Jahrzehnte radikalisierte er seine künstlerischen Vorstellungen, maß der Musik eine wichtige gesellschaftliche Funktion zu und politisierte seine Arbeit in die Richtung Verantwortung des Einzelnen, auch des Hörers, für das eigene Handeln. Es kam zu Skandalen wie einer geplatzten Aufführung seines Che-Guevara-Requiems in Hamburg, die es jedoch nicht verhindern konnten, dass Henze mehr und mehr zu einer der zentralen Persönlichkeiten der zeitgenössischen Musik avancierte. Arbeiten wie seine Sinfonien, aber auch der 1973 vollendete Zyklus “Stimmen” und das 1976 an Covent Garden uraufgeführte Bühnenwerk “We Come To The River” fundamentierten sein Ansehen. Vielfach aufgezeichnet (Großer Kunstpreis Berlin 1959, Bachpreis der Stadt Hamburg 1983; Ernst von Siemens Musikpreis 1990, Praemium Imperiale Tokyo 2000 uva.) gilt er heute als Ahnherr der zeigenössischen Moderne, der noch immer für Überraschungen gut ist.
So arbeitete Henze beispielsweise von 1999 an an der Verwirklichung seiner zehnten Sinfonie, die während der Luzerner Festwochen 2002 unter der Leitung von Sir Simon Rattle uraufgeführt wurden. Der Dirigent hatte dabei einen maßgeblichen Anteil an der Entstehung und Gestaltung dieses Werkes, hatte der Komponist es doch im Anschluss an ein längeres gemeinsames Gespräch im Jahr 1997 erstmals erwogen, in dem Rattle ein deutliches Bild einer seiner Wunsch-Sinfonien entworfen hatte. Aufgeteilt in vier Sätze mit den Bezeichnungen “Ein Sturm”, “Ein Hymnus”, “Ein Tanz” und “Ein Traum” wurde sie quasi maßgeschneidert auf Ausdrucksfähigkeit, Feingefühl, Transparenz und Luzidität, die Henze seinem Pultkollegen zuschreibt. Was jedoch nicht bedeutet, dass nur Rattle sich als geeigneter Interpret anbietet. Im Gegenteil: Gerade Werke, die wie die “Sinfonie Nr. 10” noch nicht durch eine Vielzahl von Konzerten und Einspielungen vordefiniert sind, eigenen sich ausgezeichnet für eine individuelle Deutung.
Deshalb hat auch Friedemann Layer zusammen mit dem renommierten Orchestre National de Montpellier sich des Werkes und außerdem den “Quattro Poemi” und der “Aria et Rondo pour Orchestre” angenommen. Heraus kam eine lebhafte und eindrucksvolle Alternative zu Rattles Vorstellungswelt, die Henze als einen der großen Klangmagier der Gegenwart feiert.