Es war eine Zeit der Veränderung. Die Menschheit erholte sich noch von einer der größten Katastrophen ihrer Geschichte und die technischen Entwicklungen nach dem zweiten Weltkrieg eilten in rasantem Tempo voran. Eine davon war die Umstellung von der Schellack-Platte mit ihren zwei, jeweils etwa drei Minuten langen Seiten, zur Langspielplatte, die mit zweimal zwanzig Minuten völlig neue Interpretationen zuließ. Dietrich Fischer-Dieskau, als junger Bariton in diese Ära der künstlerischen Umwälzung hineingeboren, erkannte schnell die Möglichkeiten des noch unerforschten Mediums.
Er nützte sie, um vom Potpourri-Denken des Single-Formats zum Werkgedanken der LP zu führen. Und er wagte zu Beginn der Sechziger etwas Sensationelles. Fischer-Dieskau nahm für die Deutsche Grammophon die kompletten Schubert-Lieder auf, immerhin rund 600 an der Zahl.
Inzwischen haben wir uns daran gewöhnt. Gesamtaufnahmen gehören zum musikalischen Alltag, besonders dann, wenn es sich um vergleichsweise übersichtliche Werkkomplexe wie etwa die Symphonien von Beethoven handelt. Zahlreiche Künstler haben sich während des vergangenen halben Jahrhunderts mit solchen Großprojekten auf Tonträgern beschäftigt, manche sogar mehrfach mit dem selben Repertoire. Als Dietrich Fischer-Dieskau sich jedoch daran machte, Anfang der Fünfziger ganze Liederzyklen von Friedrich Schubert aufzunehmen, fiel er noch völlig aus dem Rahmen. Das Publikum war es gewöhnt, einzelnen Stücke im Rahmen von Recitalen zu erleben, jedoch nicht eine komplette “Dichterliebe” oder “Schöne Müllerin” vorgesetzt zu bekommen. Denn das bedeutete ja nicht nur eine Abkehr vom Best-Of-Prinzip der bekannten Melodien, sondern forderte von den Zuhörern Aufmerksamkeit, Konzentration, auch kulturelles Wissen und Interesse, um den übergreifenden poetischen Motivgeflechten der vertonten Gedichtsammlungen folgen zu können. So war es für manchen eine Zumutung, für viele aber eine Offenbarung, als Fischer-Dieskau zunächst mit den geläufigsten Zyklen wie die “Winterreise”, “Die schöne Müllerin” oder eben der “Dichterliebe” auf LP in Erscheinung trat. Da der junge Bariton aus Berlin darüber hinaus über eine frappante Stimmtechnik und interpretatorische Reife verfügte, war es für viele Musikfreunde in Deutschland überhaupt das erste Mal, dass Schubert ihnen in dieser umfassenden, kompetenten Form nahe gebracht wurde.