Sehr viel unterschiedlicher könnten die beiden Sinfonien kaum sein. Seine dritte schrieb der gerade achtzehnjährige und noch lernbegierige Schubert mit jugendlichem Übermut und wachsender Souveränität, die achte hingegen war sieben Jahre später bereits finster und bedeutungsschwer, als würde der Komponist drohendes Unheil vertonen wollen. Beide zusammen ergehen einen vielfarbigen Klangkosmos, deren Gegensätze Carlos Kleiber gereizt haben, sie mit zwei seiner seltenen Einspielungen gegenüber zu stellen.
Sein Leben lang hatte Franz Schubert Geldprobleme. Auf seinen Vater konnte er kaum rechnen, denn der hatte ihn ja nach den erfolglosen Berufsversuchen als Hilfsschullehrer vor die Tür gesetzt. Also war er gezwungen, von zweifelhaften Engagements und gelegentlich vermittelten Auftragswerken zu leben. Innerhalb weniger Jahre schuf er nahezu tausend Kompositionen, von vergleichsweise einfachen Liedvertonungen über ein umfangreiches Klavierwerk bis hin zu neun Sinfonien und sechs lateinischen Messen. Trotzdem blieb ihm der Durchbruch zu Lebzeiten versagt. Vieler seiner Orchesterwerke bekam er nicht gespielt zu hören, sie waren Kopfmusik, im Inneren des Komponisten mit einem imaginierten Ensemble entstanden. Umso erstaunlicher ist die Konsistenz und Tragkraft dieser Stücke.
Die “3.Sinfonie” zum Beispiel, die der Teenager im Anschluss an die intensive und durchaus künstlerisch schmerzliche Auseinandersetzung mit dem Heroen der Wiener Klassik im Jahr 1815 niederschrieb, zeigt bereits einen konsequent und unkonventionell handelnden Komponisten. Sei es der bildhafte Einsatz der Holzbläser im ersten Satz, sei es das gemächliche Dahingleiten des zweiten oder das furiose Finale ohne Coda – Schubert wirkte sicher und selbstbewusst, ein wenig übermütig gar, obwohl noch lange nicht absehbar war, ob er jemals als Künstler würde Erfolg haben. Die “8.Sinfonie” hingegen, war das genaue Gegenteil. Diesmal begnügte er sich mit zwei Sätzen (was dem Werk den Beinamen “Die Unvollendete” bescherte), im ersten schwer und melancholisch, im zweiten Teil harmonievoll und sehnsüchtig nach künstlerischem Frieden suchend. Eine Sinfonie sollte der achten noch folgen, die allerdings erst posthum im Nachlass des Komponisten entdeckt wurde.
Diese Gegensätze haben für die Interpreten einen besonderen Reiz. Im Rekurs auf die Künstlerpersönlichkeit, auf die erschwerten Bedingungen der Entstehung, kann man ein Schubertbild entwickeln, das akustisch den Weg der intellektuellen Durchformung von Musik an der Schwelle zur Romantik nachvollziehbar macht. Carlos Kleiber hat daher – von jeher ein Feind jeglicher Einförmigkeit – bei einer seiner Phasen der Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern, genau diese beiden Werke gewählt, um mit einem der besten Ensembles der klassischen Welt die Spannungen heraus zu arbeiten. Die Aufnahmen entstanden im September 1978 im Großen Saal des Wiener Musikvereins und die dokumentieren einen präzise arbeitenden Orchesterführer, dem es gelingt, aus den Vorlagen das Größtmögliche an immanenter Dramatik heraus zu arbeiten.
Glaubt man dem Musikologen Peter Cossé, so sind seine Interpretation sogar das Non Plus Ultra des Darstellbaren: “Vielleicht ist dies auch eine der Rätsellösungen, warum man sich – ganz gleich, welche musikalische Vorbildung und Kenntnisse man auch hat – im Anschluss an eine Kleiber-Vorführung so restlos unterrichtet und aufgeklärt fühlt, obwohl man dasselbe Werk doch längst gründlich zu kennen glaubte. Wer sich wie Kleiber intensiv mit der Musik aller Zeiten und mit den Problemen ihrer Wiedergabe befasst, sich aber in der Aufführungspraxis auf eine überschaubare Zahl von Kompositionen beschränkt, der wird diese nur mit äußerster Akribie und nach strengster (Selbst)Prüfung der Öffentlichkeit preisgeben. Nicht nur der Leumund der größten Komponisten steht auf dem Spiel, sondern auch jener des Interpreten, der für alles, was er aus der Hand gibt, ein Leben lang haftet – und im Fall der Schallplatte bis ans Ende aller Tage”.
Die Referenz:
“Carlos Kleiber beweist einmal mehr, daß er keinen Vergleich zu scheuen braucht.” (Musikmarkt)
Näheres zur Referenz-Reihe unter http://www.referenzaufnahmen.de