Innerhalb der Hommage “100 Jahre Yehudi Menuhin” hat die Komponistin und Sitar-Virtuosin Anoushka Shankar am 23. April einen umjubelten Auftritt im Berliner Konzerthaus gegeben. Sie versetzte das Publikum in kindliches Erstaunen, wortlose Freude, tiefe Rührung und große Ergebenheit – man wollte sie nicht mehr von der Bühne lassen.
Gemeinsam mit einem indischen Ensemble, das auch ihr vorletztes Studio-Album “Home” einspielte, und mit der Geigerin Patricia Kopatchinskaja, belebte Shankar den Geist der lebenslangen Freundschaft Menuhins mit ihrem Vater, dem legendären Sitaristen Ravi Shankar. Menuhin und er lernten sich als Teenager in Paris kennen. Ihre musikalische Zusammenarbeit begannen sie in den frühen 1950er Jahren, als Menuhin regelmäßig nach Neu-Delhi reiste.
Die indische klassische Musik ist die womöglich komplexeste Musikform der Menschheit. Seit Jahrhunderten wird sie in mündlicher Tradition von Guru zu Schüler weitergegeben, der größte Teil ist Improvisation. Ihr zentrales Instrument, die Sitar, stammt von der indischen Laute Vina ab, mit der laut Mythologie die Hindu-Göttin Saraswati Ehemann Brahma betörte. Jeder Musikfreund erkennt seit “Norwegian Wood” ihren Klang, doch in ihrer klassischen Spielart bleibt die Sitar mysteriös, magisch, metaphysisch. Wie kann ein westlicher Zuhörer sich auf diese tausendjährige Tradition einstellen? Einen guten Tipp gab Shankar schon oft in Interviews: “just listen”, einfach zuhören.
Den Abend begann sie mit der “Raga Jogeshwari” von Ravi Shankar, neu aufgenommen in “Home”. Die zweifache Mutter spielte das Album in ihrem Heimstudio in London ein. Die Aufnahmen brachten sie in starken inneren Kontakt mit dem verstorbenen Vater, der Anoushka in ihrem Haus in Kalifornien Unterricht gab, auf einem speziell für sie angefertigten Kinder-Instrument, und mit dem sie als Teenager regelmäßig auftrat. “Home” ist ihr erstes hindustanisches Oeuvre, das Ravi selbst nicht mehr hören konnte. Sie ist hier von der Schülerin zur Meisterin gereift. Ihr bisher bestes Klassikalbum, nannten es die Medien.
Den Höhepunkt des Konzerts brachte Shankars Interpretation der “Raga Swara Kakali”. Diese nahmen Ravi Shankar und Yehudi Menuhin 1967 auf ihrem (mit einem Grammy ausgezeichneten) Album “West Meets East” auf. “Ich habe es mein Leben lang gehört”, kommentierte sie lächelnd in der Ansage. Den Part Menuhins übernahm die moldawische Geigerin Patricia Kopatchinskaja, und aus dem forschen folkloristischen Stück wurde ein mitreißender, zeitloser, kosmischer Rock and Roll. Wunderschön, wie sich die Beiden dann auf der Bühne bei tosendem Applaus umarmten. Dass nun zwei Frauen das große Erbe Ravi Shankars und Yehudi Menuhins zu neuen Ufern tragen, ist fantastisch! Vor Anoushka Shankar gab es in Indien quasi keine Sitar-Spielerinnen, sie öffnete ihnen die Tür.
Mit Musik hat sie Brücken gebaut – den Frauen und auf ihrem jüngsten Album “Land of Gold” den Migranten. Ravi Shankar trug den Klang der Sitar hinaus in die Welt. Anoushka hilft nun dabei, den Schmerz unserer zerrissenen Welt zu heilen. In ihrer Zugabe “Monsoon” – die Adaption einer traditionellen Raga – ließ sie noch einige himmlische Klänge auf ihre dürstenden Fans herabregnen. Shankars Stern wird weiter steigen.