Mythen haben etwas Magisches. Sie sind die gedankliche und poetische Schnittstelle von Realität und Fiktion, an ihnen können sich Phantasien entzünden. Da geht es Anna Prohaska kaum anders als vielen Komponisten oder Dichtern wie etwa Hans Christian Andersen mit seiner Fabel „Undine“, die mythischen Themen und Figuren eigens Stücke gewidmet haben. „Gerade das Fabelwesen an sich – sei es nun Undine, Rusalka, eine Nixe, Seejungfrau oder eine Sirene – hat mich sehr gepackt, weil diese Figur etwas entschieden Doppelbödiges birgt: auf der einen Seite wohnt in ihr etwas außerordentlich Gutes, auf der anderen das Böse“, erläutert die Sängerin den Hintergrund der Auswahl, die sie für ihr Album-Debüt als Solo-Künstlerin getroffen hat. „Bei Andersen, also im Märchen, ist nicht ganz klar, ob es Undine um die Liebe zum Prinzen geht, oder ob sie nicht vielmehr wie die Menschen eine unsterbliche Seele erlangen möchte. Aber erst durch die Liebe bekommt sie eine unsterbliche menschliche Seele. Vielleicht verkörpert das ein wenig die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, sprich: nach einem christlichen Ideal. Aber sie ist nun einmal ein heidnisches Wesen. Und deswegen klappt es nicht: weil sie mit falschen Mitteln agiert und so zur Stummheit verurteilt ist. Exakt so geht es unter den Menschen zu. Man kann sich ja schwerlich verlieben, wenn man die Stimme des anderen noch nicht gehört hat, wenn es keine Kommunikation gibt. Da kann jemand noch so schön sein. Es geht eben nicht nur ums Äußere…“
Schon gar nicht in der Kunst. Deshalb hat Anna Prohaska ein rundum anspruchsvolles und eigenwilliges Repertoire für „Sirène“ zusammengestellt, um das Panoptikum der musikalischen Passionen eindrucksvoll entfalten zu können. Die Klassiker hatte sie eh schon in petto, schließlich hat die Newcomerin im Anschluss an ihre Ausbildung in Berlin unter anderem bei Brenda Mitchell viele der bekannten Rollen auf der Bühne gesungen, allen voran die Frasquita, mit der sie bei der von Daniel Barenboim dirigierten „Carmen“ anno 2006 Publikum und Kritik begeisterte. So sollte es etwas anderes sein und inspiriert von „Undine“ wuchs ein ungewöhnliche Programm heran: „Zunächst hatte ich mir überlegt, das Märchen anhand von Liedern nachzuerzählen. Als eine Art klingende Leidensgeschichte. Aber das ging nicht, weil es von den Tonarten und Stimmungen her nicht passte. Und so entschied ich mich schließlich für eine musikalische Dramaturgie, wo die Tonarten gut zusammenpassen, wo einzelne Motive ineinander greifen: eine Reise wie durch ein Labyrinth, wo man Schritt für Schritt macht.“
Der Weg durch den Irrgarten führt von John Dowland über Henry Purcell zunächst zu Franz Schubert, Robert Schumann und Gabriel Fauré, um über die Impressionisten zunächst bei Karol Szymanowski in der Gegenwart zu landen, dann aber wieder bis zur Gregorianik zurück zu finden. An ihrer Seite hat Anna Prohaksa neben dem Lautisten Simon Martyn Ellis vor allem den Pianisten Eric Schneider, der zu ihren Lieblingsmusikern gehört: „Wir haben uns kennen gelernt, als ich 17 Jahre alt war. Damals machte ich gerade meine erste Studentenproduktion an der Hochschule, Debussys Pelléas et Mélisande; Erik war im Rahmen seines Dirigier-Studiums der zuständige Korrepetitor. Eines Tages rief er mich und fragte, ob wir eine Arbeitsprobe machen könnten. Und wir haben uns musikalisch wie auch menschlich sofort phantastisch verstanden. Erik kann einfach sehr gut zuhören. Überdies gebietet er über eine pianistische Brillanz, die mich beeindruckt.“ So setzt sich „Sirène“ zu einem faszinierend autarken Album zusammen, das alles hat, was eine Künstlerin braucht, um durchzustarten: Profil und Eigensinn, Brillanz und Vielfalt, Leidenschaft und Perfektion.