Andris Nelsons begeistert sich für die spätromantische Klangwelt. Er ist mit 39 Jahren auf dem bestem Weg, sich in die Reihe von Jahrhundertgrößen wie Herbert von Karajan, Wilhelm Furtwängler oder Georg Solti einzureihen.
Der Dirigent des 21. Jahrhunderts geht unbefangen mit dem Material der Tradition um. Er verlässt sich ganz auf sein Gefühl, um die emotionale Essenz der ihm so sehr ans Herz gewachsenen romantischen Sinfonik in Klänge zu verwandeln.
Dass er hierfür besonders begabt ist, hat der amtierende Gewandhauskapellmeister und gleichzeitige Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Die beiden Auftaktalben des Schostakowitsch-Zyklus wurden jeweils mit Grammys ausgezeichnet. Sein ambitionierter Schostakowitsch-Zyklus wird auf die Einspielung aller 15 Sinfonien des eigenwilligen russischen Komponisten hinauslaufen und ist ein imponierender Ausweis seiner ungewöhnlichen Sensibilität für die Dramatik monumentaler Sinfonien.
Die Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch gelten als schwer beherrschbare Riesen, die sich, wenn sie gut zur Geltung kommen sollen, jeder Routine widersetzen. Gerade dies scheint jedoch den Ehrgeiz des empfindsamen Dirigenten zu wecken. “Ihm fehlt”, so die Nelsons-Kennerin Christine Lemke-Matwey, “die Drachentöterhaut, mit der sich eine Schostakowitsch- oder eine Brahms-Sinfonie jederzeit auch weniger kraftvoll und inspiriert bewerkstelligen lässt.”
Andris Nelsons geht immer aufs Ganze, und das Boston Symphony Orchestra dankt ihm diese Risikobereitschaft auf seinem neuen Album großartig. Man spürt allenthalben die nie nachlassende Neugierde, die unbändige Entdeckungslust des impulsiv aufspielenden Traditionsorchesters, das zu den US-amerikanischen “Big Five” zählt. Die vierte Sinfonie kommt mit einer dermaßenen Wucht daher, dass man förmlich mitgerissen wird von der vulkanischen Heftigkeit Schostakowitschs.
Dmitri Schostakowitsch saß über der Sinfonie Nr. 4 in c-Moll, als er wegen seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk in Stalins Visier geriet und der künstlerischen Verfemung anheimfiel. Die Behörden verhinderten daraufhin die Uraufführung der Sinfonie. Erst 25 Jahre nach ihrer Fertigstellung kam sie 1961 in Moskau auf die Bühne. Mit von der Partie damals: Der Geiger Vyacheslav Uritsky, der heute beim Boston Symphony Orchestra spielt.
“Durch ihn haben wir eine ganz besondere Verbindung mit diesem Werk”, so Nelsons, der auch Schostakowitschs Sinfonie Nr. 11 in g-Moll für ein absolutes Meisterwerk hält. Diese Sinfonie entstand nach Stalins Tod, drückt aber für Nelsons keine Erleichterung aus, sondern Schostakowitschs Kampf mit den negativen Kräften der Politik. Darin steckt eine subtile Dramatik, die in der Aufnahme des lettischen Stardirigenten vollendet zur Geltung kommt.