Wenn ihm jemand vorausgesagt hätte, welche Wellen sein Schostakowitsch-Projekt schlägt, dann wäre er wahrscheinlich skeptisch geworden.
Andris Nelsons weiß, was er will. Er weiß auch, dass er mit seiner emotionalen Nähe zur Musik Schostakowitschs einen künstlerischen Schatz in seinem Herzen trägt, der nicht konfiszierbar ist. Den kann ihm keiner nehmen. Den behält er, komme, was da wolle. Doch das ändert natürlich nichts daran, dass es ein hohes Risiko darstellt, einen solchen Schatz zu teilen, ihn der Öffentlichkeit preiszugeben und sich damit angreifbar zu machen. Wird sein Orchester ihn verstehen? Wird das Publikum Anteil nehmen an seinen Plänen?
Andris Nelsons, seit der Spielzeit 2014/2015 Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra, ist dieses Risiko eingegangen. Er hat seine musikalische Leidenschaft mit nach Boston genommen und sie seinem Orchester offenbart. Die innere Verbindung zwischen dem jungen lettischen Dirigenten und dem renommierten Klangkörper war sofort da. Seit Andris Nelsons in Boston aufgeschlagen hat, herrscht dort das Schostakowitsch-Fieber, und ein Ende ist vorläufig nicht in Sicht.
Für das erste Schostakowitsch-Album, das er im Juli 2015 mit dem Boston Symphony Orchestra veröffentlichte, bekam er unlängst einen Grammy. Im Februar 2016 erhielt er die Auszeichnung Grammy für die beste Orchester-Aufführung. Deutsche Grammophon vermeldet unterdessen, dass der Vertrag mit Andris Nelsons erweitert worden ist und statt der Sinfonien 5–10 nunmehr alle 15 Sinfonien des russischen Komponisten aufgenommen werden sollen und dazu noch die Meisteroper Lady Macbeth von Mzensk.
Das sind Aussichten, die Lust auf mehr machen, und dass die Weiterverfolgung der ambitionierten Pläne des lettischen Dirigenten sich lohnt, dafür bürgt jetzt schon sein gerade erschienenes, zweites Schostakowitsch-Album mit dem Boston Symphony Orchestra. Wie der Erstling steht es unter dem Titel “Under Stalin’s Shadow” und versammelt Werke, die Schostakowitsch in den brutalsten Jahren der Sowjet-Tyrannei verfasste. Mit viel Geschick nahm er sich Freiheiten.
Obgleich permanent unter Druck, fand Schostakowitsch eine eigene Tonsprache, die ein bis dato unbekanntes Feld zwischen Tradition und Moderne absteckte. Das neue Album von Andris Nelsons entfaltet diese reiche Klangwelt. Neben spätromantischen und neoklassischen Stimmungen brechen sich dabei auch immer wieder elektrisierend moderne Ideen Bahn.
Die zweite Folge von “Under Stalin’s Shadow” erscheint als Doppelalbum und enthält die Sinfonien 5, 8 und 9 sowie eine Bühnenmusik zu Shakespeares Hamlet. Alle Aufnahmen wurden während der Saison 2015/2016 live mitgeschnitten. Die flirrende Atmosphäre des Konzertsaals vermittelt sich prächtig. Man spürt die überwältigende Präsenz der Musik, die Energie, die Nelsons erzeugt.
Das Album setzt ein mit der Sinfonie Nr. 9. Mit ihr schlug Schostakowitsch Stalin ein ironisches Schnippchen. Am Kriegsende 1945 erschienen, hatte man eine triumphale Komposition erwartet. Doch Schostakowitsch schreibt eine kurze, schwebende Sinfonie, die Witz und Charme versprüht. Klassischer mutet die Sinfonie Nr. 5 an, deren optimistisches Finale den Hörer mitreißt. Dagegen ist die Sinfonie Nr. 8 tiefsinnig und voller emotionaler Kraft.
Mit der Bühnenmusik zu Hamlet findet sich schließlich eine erregend avantgardistische Schöpfung auf dem Album, die das theatrale Genie Schostakowitschs verrät. Das ganze Album bebt, ist sinnlich und plastisch. Andris Nelsons führt die immense Gespanntheit und den großen Gedankenreichtum Schostakowitschs vor: ein musikalischer Kosmos berührender Melodien, mitreißender Dynamiken und überraschender Harmonien.