Andris Nelsons ist ein Dirigent, der große Herausforderungen liebt. Monumentale Sinfonien mit starken Kontrasten, vielen Stimmungsnuancen und langen Spannungsbögen reizen den mehrfachen Grammy-Preisträger und treiben ihn zu Höchstleistungen an. Seine Fähigkeit, ganzheitlich zu denken und ins musikalische Zentrum gewaltiger Orchesterwerke vorzudringen, konnte er mit seinem Bruckner-Zyklus bereits eindrucksvoll unter Beweis stellen.
Die drei bislang erschienenen Alben aus dem ambitionierten Vorhaben, das der lettische Stardirigent gemeinsam mit dem Gewandhausorchester Leipzig verwirklicht, lösten sowohl beim Publikum als auch in der Fachpresse ungeteilte Begeisterung aus. Der strömende, weiche Klang des traditionsreichen Orchesters, das Andris Nelsons seit Februar vorigen Jahres als Gewandhauskapellmeister leitet, dazu die Risikobereitschaft des Klangkörpers, emotionales Pathos zu wagen, ohne in Sentimentalität abzugleiten, haben Eindruck gemacht.
Der Erfolg hat viele Gründe. Einer davon dürfte die lange Bruckner-Tradition des Gewandhausorchesters sein. Arthur Nikisch hat mit seiner Uraufführung von Bruckners siebter Sinfonie im Jahre 1884 einen maßgeblichen Beitrag zum Durchbruch des österreichischen Komponisten geleistet. Das Klanggespür für romantisches Repertoire gilt als DNA des sächsischen Orchesters. Ferner profitiert der Sinfonien-Zyklus davon, dass sich Gefühl und Verstand bei Andris Nelsons die Waage halten.
Der von seinem Publikum bewunderte Dirigent setzt sich emotional aus, ohne darüber die geistige Auseinandersetzung mit dem romantischen Erbe zu vernachlässigen. Mit Bruckner hat er sich intensiv beschäftigt. Ihn interessiert die religiöse Verwurzelung des Komponisten, und er fragt sich, wie sie sich zu Bruckners musikalischem Pioniergeist verhält. Anton Bruckner stand stark unter dem Einfluss von Richard Wagner. Nelsons trägt diesem Faktum in seinem Aufnahmeprojekt Rechnung, indem er die Sinfonien des österreichischen Komponisten mit Orchestermusik von Richard Wagner in Schwingung zu bringen versucht.
Auf seinem neuen Album kombiniert er die Sinfonien Nr. 6 in A-Dur und Nr. 9 in d-Moll von Anton Bruckner mit Wagners sinfonischer Dichtung “Siegfried Idyll” und dem Vorspiel zum Parsifal: weitläufige, stille Klanglandschaften, denen bebende Naturgewalten innewohnen, die sich ganz allmählich und bisweilen nur andeutungsweise zeigen. Das passt zu dem feierlichen Adagio aus Bruckners sechster und dem majestätischen Kopfsatz der neunten Sinfonie, die auf je eigene Weise ganz geduldig wuchtige Wellen auftürmen.
Doch Nelsons ist weit davon entfernt, Anton Bruckner als Imitator von Richard Wagner vorzuführen. So erkennt er in dem scheinbar ewig fließenden Adagio aus der sechsten Sinfonie eine solch innovative Kraft, dass er Bruckner zum Wegbereiter von Gustav Mahlers grenzsprengender Kompositionskunst erklärt. Die neunte Sinfonie des österreichischen Komponisten hat ihre eigenen, weit in die Zukunft vorausweisenden Klangekstasen, die Nelsons in seiner Aufnahme vehement zur Geltung bringt. Das Faszinierendste an seinem Doppelalbum ist jedoch der geheimnisvolle Ton, den er dem Gewandhausorchester entlockt. Das sanfte Tremolo der Streicher zu Beginn der neunten Sinfonie etwa und der behutsame Einsatz der Holzbläser im dritten Takt entfalten eine mystische Aura, die einem regelrecht den Atem stocken lässt.
Wer diesen geheimnisvollen Bruckner-Ton live erleben möchte, der sei auf zwei Konzerte des Gewandhausorchesters Leipzig verwiesen, die im Mai stattfinden. Am 9. und 12. Mai 2019 führt das Orchester unter der Leitung von Andris Nelsons im Großen Saal des Gewandhauses Bruckners Sinfonie Nr. 5 in B-Dur auf. Das Konzert am 9. Mai beginnt um 20:00 Uhr (Konzerteinführung 19:15 Uhr im Schumann-Eck), die Aufführung am 12. Mai beginnt um 11:00 Uhr (Konzerteinführung 10:15 Uhr im Schumann-Eck).