Johann Sebastian Bach war früh elternlos, arm und zunächst alles andere als hochgebildet: Aber sein Selbstbewusstsein reichte für zehn thüringische Musiker.
Auf dem Marktplatz in Arnstadt am Abhang des Thüringer Waldes steht ein ungewöhnliches Bronzedenkmal. Ein schlanker Mann lehnt lässig und seiner selbst gewiss an einer schmalen Orgelbank. Sein scharf geschnittenes Gesicht wirkt, so ganz ohne Perücke, jung und entspannt. Selbstsicher und ziemlich eigenwillig war Johann Sebastian Bach, als er ab 1703 für die Arnstädter Gemeinde tätig war. Das fanden auch seine Vorgesetzten: “Wir halten ihm vor, dass er bisher in dem Choral viele wunderliche Variationes gemachet, viele fremde Thone mit eingemischt, dass die Gemeinde drüber confundiret (verwirrt) worden. … Der Organist Bach habe bißhero etwas gar zu lang gespiehlet, nachdem ihm aber vom Herrn Superintendenten deswegen Anzeige beschehen, währe er gleich auf das andere Extremum gefallen und hätte es zu kurtz gemachet.” So beklagte sich 1706 das Konsistorium, die vorgesetzte Kirchenbehörde, über ihren Organisten. Johann Sebastian Bach war 21 Jahre alt und in seiner ersten Anstellung. Aber von demütiger Einsicht keine Spur: Die Neue Kirche zu Arnstadt hatte ihn drei Jahre zuvor ohne weiteren Kandidaten eingestellt und Bach wusste, dass er seitdem nur noch besser geworden war.
Seine ersten elf Jahre verbringt Johann Sebastian in der kleinen Residenzstadt Eisenach und erlebt schon als Junge, was ihn ein Leben lang begleiten soll: eine Familie von Berufsmusikern, die Hauptkirche St. Georg mit Orgel und Figuralchor, die nahe Wartburg mit ihren höfischen Konzerten und Kantaten. Doch als 1694 und 1695 kurz hintereinander Mutter und Vater sterben, kommt Sebastian zum ältesten Bruder Johann Christoph nach Ohrdruf. In dem kleinen Ort zwischen Eisenach und Arnstadt ist dieser Organist – was der kleine Bruder weidlich ausnützt: In schier unstillbarem musikalischen Wissensdurst lernt er neben Schule und Currende-Singen alles, was ihm der Bruder über Orgeln, Generalbass und Komposition beibringen kann.
Als Johann Sebastian Bach mit 18 Jahren in Arnstadt seine erste Stelle als Organist antritt, bewegt er sich nicht auf unbekanntem Terrain. Von jeher gab es neben der Meininger, der Eisenacher und der Erfurter auch eine Arnstädter Linie der Bach-Sippe und die meisten waren Musiker. Aber einen Bach wie den jungen Johann Sebastian hat die Gemeinde noch nicht gekannt: virtuos auf der Orgel, fachkundig bei Reparaturen am Instrument und unkonventionell in seiner Lebensführung. Sein Junggesellen-Alltag ist alles andere als zurückgezogen oder gar klerikal. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er freie Zeit, die er bis zum äußersten fürs Notenstudium, fürs Komponieren und die Begegnungen mit großen Musikern nützt: Seinen bewilligten Vierwochenurlaub für eine Reise nach Lübeck überzieht er um etliche Wochen, weil er Buxtehudes Abendmusiken erleben möchte. Wie ein Adeliger trägt der 19-jährige Vollwaise einen Degen, geht während der langen Predigten des Arnstädter Pastors ins Wirtshaus und lädt, was das Konsistorium irritiert festhält, eine “fremde Jungfer” – vielleicht seine Cousine zweiten Grades, Maria Barbara – zum Musizieren auf den Chor.
Auf die Vorhaltungen der Vorgesetzten reagiert Bach schnell und eindeutig: Ostern 1707 wirft er die Anstellung in Arnstadt hin und bewirbt sich mit einem Probespiel in der Freien Reichsstadt Mühlhausen in Thüringen und setzt seine Forderungen durch: das gleiche Gehalt wie in Arnstadt, aufgebessert mit einem Naturaldeputat. Der ehrgeizige Organist hat sich und sein Können mal wieder ins rechte Licht gerückt und führt im Oktober dieses Jahres Maria Barbara in der Dorfkirche von Dornheim zum Traualtar. Doch die Freude in Mühlhausen dauert nicht allzu lang. Streit zwischen orthodoxen Lutheranern und Pietisten und die engen Grenzen einer kleinen Kirchengemeinde treiben ihn weiter – diesmal an den Hof zu Weimar.
Vom Glanz der zwar kleinen, aber deutlich leuchtenden Residenz erwartet sich Bach mehr Anregung, mehr Großzügigkeit und Anerkenung. Und die Weimarer Zeit beginnt sehr glücklich: Der 23-Jährige wird Vater einer großen Familie – in sieben Jahren gebärt ihm Maria Barbara sechs Kinder – , er ist Hoforganist und Kammermusiker. “Bleibeverhandlungen” in seinem vierten Weimarer Jahr verbessern noch einmal seine Konditionen: Halle will ihn gewinnen, kann oder will aber nicht auf seine ehrgeizigen Forderungen eingehen. So bleibt er in Weimar, bekommt das für ihn geschaffene Amt des Konzertmeisters und man verpflichtet ihn, jeden Monat eine Kirchenkantate zu komponieren – etwas, das schon lange zu seinen Vorhaben gehörte. Doch aus den üblichen Reibereien mit seinen Arbeitgebern entstehen handfeste Konflikte, als die Machtverhältnisse im Herzogtum durch eine Doppelregentschaft von Herzog Wilhelm Ernst und seinem Neffen Ernst August immer verworrener werden. Bach will sich nicht vorschreiben lassen, für wen er Musik macht und komponiert Kantaten für beide Herrscher. Der Herzog revanchiert sich und übergeht ihn bei der Besetzung der Hofkapellmeisterstelle. Im Herbst 1717 bittet Bach nachdrücklich um seinen Abschied von Weimar – und wird für einen Monat inhaftiert und danach ungnädig entlassen. Am 6. November sei, heißt es in den Akten, “der bisherige Concert-Meister u. Hof-Organist, Bach, wegen seiner halßstarrigen Bezeugung v. zu erzwingenden Dimission, auf der Landrichter-Stube arretieret”. Doch da hat er den Vertrag, der ihn von Thüringen weg an den Hof des Fürsten von Anhalt-Köthen bringt, bereits in der Tasche.