Seine böse Stiefmutter war eine gute: Ihretwegen bekam Eric Satie seinen ersten Klavierunterricht und als er nach einem Jahr wieder rausflog, genug Zeit fürs Komponieren.
Ein grauer Herbstnachmittag. Regen schlägt an die Fenster. Gelassene Einsamkeit. Warum nicht Musik? Aber bitte jemand, der die heitere Melancholie des Augenblicks nicht zerstört: Weder lärmende Fröhlichkeit noch tiefer Trübsinn sollen einem jetzt die Stimmung verderben. Zarte Klavierakkorde wiegen sich im Walzertakt, darüber eine Melodie von jenseitiger Schönheit: die erste “Gymnopédie” des Franzosen Eric Satie, ein Schlager der Moderne, über dessen Schöpfer indes die wenigsten genauer Bescheid wissen dürften. Dabei bietet Saties Leben genug Stoff für einen Roman – einen Roman der Seele allerdings, denn an äußeren Aufregungen war seine Biografie arm: Kaum je verließ er Paris, schon eine Reise nach Brüssel oder Monte Carlo in den späten Jahren seines Ruhms geriet dem über 50-Jährigen zum grandiosen Abenteuer.
Satie wurde 1866 in ein musikliebendes Elternhaus geboren, sein Vater arbeitete zunächst als Kaufmann, um später eine Musikalienhandlung und einen kleinen Musikverlag zu gründen (in dem auch Kompositionen des Sohnes gedruckt wurden). Von der Stiefmutter zur musikalischen Ausbildung gedrängt, begann der 13-Jährige ein Klavierstudium am Pariser Conservatoire. Doch der Drill war ihm zuwider, seine Lehrer attestierten dem jungen Mann zwar Begabung, aber mangelnden Fleiß. Satie zog auf den Montmartre und begann ein Leben in der Bohème. Er arbeitete als Kabarett-Pianist im berühmten Etablissement “Chat noir”, ergab sich zugleich dem im Paris der Jahrhundertwende modischen Mystizismus: Er wurde Hauskomponist des Rosenkreuzer-Ordens, mit dessen Gründer Josephin Peladan er sich aber schon wenig später überwarf. Saties Lösung: Er gründete seine eigene Kirche, die “Église métropolitaine d’Art et de Jésus conducteur”. Einziges Mitglied: Eric Satie, was ihn nicht hinderte, namens seiner eigenen Kirche Bannsprüche und Segenswünsche auf fast zwanghaft penibel kalligrafierten Postkarten in die Welt hinauszuschicken. Indes war Satie kein weltfremder Einsiedler. Davor bewahrte ihn schon sein – gelegentlich durchaus bissiger – Humor: So zwang er 1892 den Direktor der Pariser Oper zur Begutachtung einer von ihm entworfenen Oper: Wenn er nicht wenigstens bereit sei, einen Blick in die Partitur zu werfen, müsse er ihn zum Duell fordern.
In den Kneipen rund um den Montmartre war er ein den Genüssen des Lebens zugetaner, gern gesehener und großzügiger Gast – auch wenn ihn sein Alkoholismus später das Leben kosten sollte: Satie starb 1925 an einer Leberzirrhose. Frauen scheint es, von einer kurzen aber heftigen Affäre abgesehen, in Saties Leben nicht gegeben zu haben. Aber immerhin Freunde. Einer unter ihnen war für den Komponisten besonders wichtig, seine Anerkennung wog schwer: 1891 hatte er Claude Debussy kennengelernt, der in ihm zu dieser Zeit einen Geistesverwandten erblickte und ihm lange Jahre gewogen blieb. Doch bei allem Respekt blieb auch der große Impressionist von Saties Sarkasmus nicht verschont. Einmal hatte Debussy – durchaus kollegial – angeregt, Satie solle bei allem harmonischem Reiz seiner Musik doch die Struktur eines Werkes mehr berücksichtigen. Satie antwortete auf seine Weise, mit der Komposition der “Morceaux en forme de poire”: drei “Stücke in Form einer Birne”. Gefragt, was es mit diesem merkwürdigen Titel auf sich habe, meinte Satie, so entgehe er dem Vorwurf der Formlosigkeit …
Ist es da noch erstaunlich, dass Satie sich mit den Dadaisten bestens verstand und ihre Zertrümmerung aller herkömmlichen Kunstformen lustvoll unterstützte? Zumal er so gesellschaftliche Anerkennung einheimsen konnte, die ihm erst Jahre – manchmal gar Jahrzehnte – später zuteil wurde. Die impressionistische Klangsprache Debussys fand sich bei ihm schon Mitte der 1880er Jahre, niemand nahm ihn ernst. Wiederholung als Stilmittel kam gar erst um 1960 mit der Minimal Music eines Steve Reich oder Philipp Glass in Mode. Dabei hatte Satie schon 1892 ein Stück nach gleichem Muster komponiert, in dem ein und dieselbe kurze Taktfolge 840-mal wiederholt werden sollte. Die erste komplette Aufführung dieser “Vexations” (auf Deutsch: “Quälereien”) fand erst 1963 statt, angeregt von John Cage. Die Aufführung dauerte 18 Stunden und 40 Minuten und forderte zehn Pianisten.
Was bleibt von Satie heute, 75 Jahre nach seinem Tod? Er war einer der wenigen Komponisten im zwanzigsten Jahrhundert, die zwischen E- und U-Musik keinen Unterschied machten. Er komponierte für die High Society, die Avantgarde und für die Pariser Kabaretts – und nahm alle drei gleich ernst. Er wollte Musik aus ihrem Bildungsghetto befreien: In seinem Wohnort, dem Pariser Vorort Arcueil, gab er Kindern lange Jahre unentgeltlichen Musikunterricht. Musik sollte alltäglich sein, als “musikalische Möblierung” unser Leben verschönern – eine Vision, die im Zeitalter der Fahrstuhl-Berieselung ganz anders eingetreten ist, als Satie sich das erträumt haben dürfte. Uns weist Saties Schaffen gerade in seiner Schlichtheit oder, wie es ein anderer Freund des Komponisten, der Dichter Jean Cocteau, gesagt hat, in seiner “Nacktheit” einen Weg, über Musik zur Stille zu finden – nicht nur, wenn der Regen an die Fenster schlägt.