Wagt sich jemand mit den „12 Études d’exécution transcendante“ an die Öffentlichkeit, muss er sich seiner Sache schon sehr sicher sein und noch dazu ein herausragendes Talent haben. Alice Sara Ott gehört zu diesen Ausnahmeerscheinungen der klassischen Musikwelt, für die eines der mächtigsten Werke der Klavierliteratur gerade gut genug ist, um einen Ausgangspunkt für eine internationale Karriere zu setzen. Denn es besteht kein Zweifel: Die 21-jährige Münchnerin wird in den kommenden Jahren die Konzertsäle von Berlin bis New York erobern. In Japan jedenfalls ist sie bereits ein Star.
Franz Liszt gilt vielen in Fragen der Virtuosität als das pianistische Pendant zum Wundergeiger Niccolo Paganini, den er übrigens sehr bewunderte. Tatsächlich veränderte er sein musikalisches System deutlich, nachdem er den Kollegen 1831 zum ersten Mal in Paris auf der Bühne erlebt hatte. Viele der typischen Merkmal seiner Kompositionen, die Vorliebe für improvisatorisch wirkende Ungebundenheit, die Vermeidung der bislang üblichen Kadenzierungen, Periodisierungen und symmetrischen Formgebungen entwickelten sich in diesen Jahren zur vollen Blüte. Die fantasievolle Veränderung der Struktur, seine Experimente mit der Ausweitung der Harmonik und der chromatischen Satztechnik wie überhaupt mit den Möglichkeiten des noch jungen modernen Konzertflügels in den extremen Lagen im Bass und Diskant wiesen bereits weit in die kommenden Epochen hinein und fordern bis heute Pianisten immense technischen und interpretatorische Fähigkeiten ab.
Das gilt im Besonderen für die „12 Études d’exécution transcendante“, die in drei Fassungen zwischen 1826 und 1852 entstanden. Die mit op.1 überschriebene Früh-Version stammte noch von dem 15-jährigen Wunderkind und war als erstes von vier Heften mit Übungen angelegt, die in 48 Kapiteln durch alle Tonarten gehen sollten. Die zweite Fassung revidierte Franz Liszt dann anno 1837 unter dem Eindruck der Paganini-Revolution der romantischen Virtuosität, lenkte deutlich den Fokus auf die Fingerfertigkeit und schuf damit ein Monument einer damals kaum vorstellbaren klaviertechnischen Ausdrucksmacht. Damals war die Veröffentlichung noch auf 24 Etüden angelegt, die jedoch nicht fortgesetzt wurden. Stattdessen nahm der Komponist die ersten zwölf Werke im Jahr 1852 noch einmal auf, entschärfte manchen übertriebenen Höhepunkt und verdichtete zugleich die Wirkung der Musik zu einer nach seinen Ideen optimaler Form. Zu diesem Zeitpunkt erhielten die einzelnen Stück auch ihre assoziativen Titel wie „Irrlichter“, „Wilde Jagd“ und „Abendklänge“.
Diese Fassung gilt bis heute als die Referenzversion und ist daher auch die Grundlage der Einspielung der „12 Études d’exécution transcendante“, mit denen die Alice Sara Ott ihren Einstand als Exklusivkünstlerin bei der Deutschen Grammophon feiert. Und es gibt tatsächlich viele Gründe zur Freude. Denn mit der 21-jährigen Münchnerin ist ein Rising Star am Firmament der internationalen Klavierwelt erschienen, der unüberhörbar ganz nach oben strebt. Alice Sara Ott stammt aus deutsch-japanischer Familie, begann im Alter von vier Jahren mit ersten Versuchen am Klavier und avancierte schnell zur viel beachteten Newcomerin, die bereits als Siebenjährige den 1.Platz von „Jugend musiziert“ gewann. In großen Schritten ging es voran, von Wettbewerb zu Wettbewerb. Im Jahr 2000 nahm Karl-Heinz Kämmerling die damals 12-Jährige am Mozarteum in Salzburg unter seine Fittiche und bald darauf war sie auch auf internationalen Bühnen zu erleben.
Spektakulär war Alice Sara Otts Auftritt anno 2006 im Rahmen des Projekts „100 Pianisten“ in Tokio, der sie schlagartig in Japan bekannt machte. Im selben Jahr stellte sie sich mit dem Tonhalle-Orchester in Zürich vor, wenige Monate später gab sie in ihrer Heimatstadt im großen Rahmen im Herkulessaal ihren Einstand und anno 2008 ließ sie in Basel sogar das Publikum vergessen, dass sie kurzfristig für den Klavierstar Murray Perahia eingesprungen war und wurde stürmisch gefeiert. Nun also stellt Alice Sara Ott sich mit Liszt dem internationalen Publikum vor (nachdem das Album wegen einer Tournee im Japan einige Monate früher erscheinen war). Die Aufnahmen waren im Juni 2008 in der Hamburger Friedrich-Ebert-Halle entstanden und sie zeigen nichts weniger als eine herausragende Künstlerin, die den Vergleich mit den etablierten Größen ihres Geschäfts nicht scheuen braucht – und dabei erst ganz am Anfang ihrer Karriere steht.
Mehr Informationen zu Alice Sara Ott finden Sie auf ihrer Künstlerseite