Lili Boulanger ist nicht alt geworden. Immens begabt, aber kränklich, starb die jüngere Schwester der großen Pädagogin Nadia Boulanger mit 25 Jahren. Sie hinterließ ein kryptisches Werk mit dunklen Facetten, das erst langsam in seiner Bedeutung entdeckt wird. John Eliot Gardiner nimmt sich ihrer Psalmenvertonungen an und gibt ihnen mit Stravinskys “Psalmensymphonie” einen würdigen Rahmen.
Die Boulangers waren eine Musikerdynastie mit beachtlicher Tradition. Lilis Großmutter war die renommierte Sängerin Marie-Julie Boulanger, ihre Mutter eine russische Pianistin, ihr Vater Komponist und Lehrer für Violine am Pariser Konservatorium. Die sechs Jahre ältere Schwester Nadja spielte Orgel und erhielt bereits in jungen Jahren Preise für Harmonielehre, Kontrapunkt, Begleitung. Als Lili 1893 geboren wurde, war sie daher bereits Teil eines bildungsbürgerlichen musischen Haushalts in der Künstlerstadt Paris, der ihre Talente bald entdeckte. Mit zweieinhalb Jahren konnte sie Noten lesen, mit fünf sang sie Lieder von Fauré, die der Komponist und Freund der Familie selbst begleitete. Die turbulenten Jahre vor Ausbruch der ersten Weltkriegs erlebte sie als kränkliche Teenagerin, schaffte es aber 1913 mit ihrer Kantate “Faust et Hélène”, den angesehenen Kompositionspreis von Rom zu gewinnen. Das wiederum ermöglichte ihr, als Stipendiatin in der Villa Medici in aller Ruhe ihre Psalmenvertonungen anzugehen.
Rundherum stürzte die Welt ein und Lili Boulanger fand dafür eine angemessene Sprache. Sie ist geprägt von der Hoffnung des Glaubens, die die alttestamentarischen Texte vermitteln, aber auch von der Drastik, mit der die junge Frau zu den Katastrophen der Gegenwart Stellung nahm. Sie instrumentierte karg, ließ die Stimmen wirken und verhalf ihnen zu einer Kraft, die nur wenigen Kollegen ihrer Zeit gelang. Manches ließ Beziehungen zu den impressionistischen Ideen eines Debussy erkennen, anderes nahm aber bereits die Strenge eines Messiaen voraus. So schuf Lili Boulanger Werke, die mühelos den kreativen Ansprüchen des Expressionismus genügten. Ihr blieb jedoch nicht mehr die Zeit, sie in größerem Rahmen weiter zu führen. Als sie 1918 starb, ging um sie herum die abendländische Zivilisation zugrunde. Die schmerzhafte Phase des vorläufigen Neubeginns in den Zwanzigern erlebt sie nicht mehr.
Igor Stravinsky hingegen hatte zu diesem Zeitpunkt noch alles vor sich, den Ruhm als internationaler Komponist, die Entdeckung des Dodekaphonischen, das Exil in den USA. Er kannte Lili flüchtig als Schwester seiner Freundin Nadia, mit der ihn ein profundes künstlerisches Gestaltungsbedürfnis verband. Als er sich 1930 an die Ausformung seiner “Psalmensymphonie” machte, lag das eine Unheil der Krieges bereits zwölf Jahre zurück, während sich das andere des Nationalsozialismus langsam zusammen braute. Stravinskys Spiritualität in dem dreisätzigen, vergleichsweise kurzen Werk bewegt umso mehr, da er sich vorsichtig wieder an frühere Kompositionsstimmungen annäherte. Für John Eliot Gardiner jedenfalls ist es eine Herausforderung, die an der Oberfläche sehr unterschiedlichen, in ihrem Impetus aber ähnlichen Werke adäquat umzusetzen. Es gelingt ihm gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem Monteverdi Choir voll kühner Abstraktion und tiefer Emotion zugleich. Denn eines ist klar: Sowohl Boulanger als auch Stravinsky litten in ihrer Weise an der Unfähigkeit der Menschheit. Und diese latente Tragik mit der irrationalen Spur der Hoffnung beseelt beide Werkkomplexe, deren Dimension Gardiner souverän sich entwickeln lässt.