Im Jahr 2022 feiert der Geiger, Dirigent und Musikwissenschaftler Reinhard Goebel seinen 70. Geburtstag. Als er 1973 sein Ensemble Musica Antiqua Köln gründete, steckte die historische Aufführungspraxis nicht mehr in den Kinderschuhen, aber mit Goebel – so scheint es – lernte sie laufen.
Zu Ehren des Geburtstags des Maestros versammelt DG erstmals die kompletten Aufnahmen von Goebel und Musica Antiqua Köln für das DG-Label Archiv Produktion auf 75 CDs, darunter mehrere CD-Premieren. Ein 128-seitiges Booklet mit einem Essay von Martin Elste, einem faszinierenden neuen Interview mit Goebel und vielen unveröffentlichten Fotos rundet dieses umfassende Porträt ab.
Drei der in der Box enthaltenen Alben (Musik von Leclair, von Clérambault und eine Auswahl französischer Rokoko-Musik) werden zum ersten Mal digital verfügbar gemacht (siehe unten). Außerdem legen wir die Aufnahme von Bibers Missa Salisburgensis neu auf, in der Goebel und Musica Antiqua Köln zusammen mit Paul McCreesh und Gabrieli das hochwertige Raumerlebnis von Dolby Atmos® bieten.
Herr Goebel, demnächst werden Sie 70 Jahre alt, 75 CDs umfasst Ihr Gesamtwerk bei der Deutschen Grammophon. Haben Sie das derart »zahlenmystisch« durchgeplant?
Tja, ich bin selber überrascht. Wir sind nicht wie andere wöchentlich ins Studio gegangen und waren zuständig eher für die Fußnoten. In den ersten 15 Jahren Kleinkram, den kein anderer machte. Wir haben jeden Tag fleißig geübt, wenn auch vielleicht nur eine halbe Stunde. Bis die Fetzen flogen. Wir waren ein Fulltime Ensemble, mit bis zu 120 Konzerten pro Jahr. Das gilt bei Weitem nicht für alle derartigen Ensembles.
Warum flogen die Fetzen?
Ich war ein Troublemaker. Einen Kollegen gab es, der verteilte zur Beruhigung immer Schokolade. Denn, wissen Sie: Ich arbeite den ganzen Tag. Freundoder Feindschaften gab es bei uns nicht. Nur: Ich kann mir doch nicht alles sagen lassen. Und Kinder oder Drogen besaß ich nicht.
Was war das Alleinstellungsmerkmal der Musica Antiqua Köln?
Wir waren die einzige Gruppe weltweit, die von einem Konzertmeister geleitet wurde. Nicht von einem Cembalisten oder Cellisten. Und das, was so vielen fehlt, nämlich die musikwissenschaftliche Ausbildung, darum habe ich mich dann umso intensiver bemüht.
Zur Archiv Produktion holte Sie deren Geschäftsführer Andreas Holschneider. Wie groß war seine Bedeutung?
Ich habe ihn sehr geliebt, wie ich sagen muss. Er meinte zu mir: »Halten Sie sich zurück, kümmern Sie sich nicht zu sehr.« Denn er wusste, was so vorkommt, und zwar vom Amadeus Quartett. Die reisten immer separat an und wohnten auch getrennt. Holschneider hat mich erzogen. Nudeln und Krabben, wie isst man die? Er holte sich Proletarierkinder wie Trevor Pinnock und mich. Gardiner, der durfte mit den Türen werfen. Bei mir hätte das tödlich geendet. Mit Holschneider wurde dann alles durchdiskutiert und -dekliniert. Er kam in die Konzerte. »Hätten wir da nicht noch was Besseres?«, fragte er. Wir waren ja schlecht verkäuflich, weil wir Köln im Namen hatten. Er wollte uns trotzdem.
Schon 1973, als die Musica Antiqua entstand, mussten Musiker der Alten Musik, wenn sie die dirigieren wollten, ihr eigenes Ensemble gründen. Sie auch?
Genau so war es. Ich war außerdem ein rabiater Youngster, alle anderen wollten mich nicht. Wenn ich in der Cappella Coloniensis fragte, ob an einer Stelle ein Triller kommen müsse, antwortete mir Franzjosef Maier, der mein Lehrer war: »Getrillert wird, wenn ich es sage.« Nichts für mich! Maier mochte mich nicht, er hielt mich für unbegabt. Ich ging dann zu Saschko Gawriloff. Mir war klar: Ich muss was Eigenes machen, um zu überleben. Und ich wollte auch.
Sie hätten doch eine Solokarriere anstreben können!?
Undenkbar. Dafür hatte ich viel zu spät angefangen, im Alter von zwölf Jahren. Das kann man niemals wieder aufholen. In Indien würde man sagen: »Warten Sie, bis Sie wiedergeboren werden …«
Ihr Vater war Bahnhofsvorsteher, mit Mütze, Trillerpfeife und Kelle. Ein »Lenkungsberuf«, könnte man sagen. Vom Dirigenten gar nicht so sehr verschieden?
Sie haben Recht. Mein Vater war Beamter, so wie Carl Philipp Emanuel Bach. Tatsächlich wurde ich der Apostel meines Vaters, was Zielstrebigkeit, Ordnungssinn und Konsequenz anbetrifft. Er zwang mich zum Abitur. Er sah mich dann noch als Geigensternchen herumflunkern. Ich bin ihm dankbar.
War die historische Aufführungspraxis für Sie damals das Gebot der Stunde? Oder wie kamen Sie dazu?
Bei meinem ersten Geigenlehrer hingen Stammbäume an der Wand. Von Corelli, Leclair und so. Locatelli etwa kam von Corelli her. Ich stand wie gebannt davor. Wenn ich Schubert spielen musste, fing ich dagegen an zu heulen. Ich konnte das nie lange ertragen. Und besaß eine angeborene Abneigung gegen alles, was nach 1749 lag. Geminianis Violinschule, das war das Objekt meiner Begierde.
Barockvioline lernten Sie bei Marie Leonhardt, der Frau von Gustav Leonhardt. Bestand Ihre Aufgabe darin, alles wieder zu verlernen, was man sich mühsam angewöhnt hatte?
Überhaupt nicht. Marie Leonhardt war eine moderne Geigerin, sie hatte bei Max Rostal studiert. Sie wusste was von Vibrato und von Fingerbewegung. Das ganze Gedöns, wie man heutzutage Barockgeige spielt, also von den Beinen aufwärts über das Gesäß bis zum Rücken, war ihr fremd. Freilich, wenn es ernst wurde, sagte sie: »Rijnhardt, da müssen Sie meinen Mann fragen!« Das sagte Frau Harnoncourt auch immer. Dabei verstand sie, dass ihr Mann mich eigentlich zum Kotzen fand. Er wollte Hierarchie haben. Sie nicht.
Die Repertoireschwerpunkte der Musica Antiqua lagen bei Bach, Biber, Telemann und deutscher Barockmusik, andererseits im französischen Repertoire. Waren Ihnen die Briten fremd?
Meinen Sie damit Händel?! – Die Struktur des Ensembles bestimmte, was wir spielen konnten. Blockflöte, zwei Violinen und Streicher. Vivaldi war persona non grata, denn I Musici war noch zu frisch. Die Franzosen wiederum kannten ihren eigenen Couperin nicht recht. Auch bei Rebel war ich der Erste. Dann kam die deutsche Kammermusik, und zwar vor Bach, aufgrund unserer Reihe im WDR. Heinichen wollte man damals noch nicht von uns, den durften wir erst nach der Wende nachholen. Dann umso erfolgreicher. Zu Ihrer Frage: Purcell war nicht meine Kragenweite. Das protestantische Deutschland, ich darf es als Kathole sagen, ist eigentlich die Wiege der Musik.
Hatten Sie bei Bach ein konkretes Ziel?
Nein. Ich hatte kein Bach-Bild. Erst durch den Kontakt mit Christoph Wolff ab 1982 hat sich das geändert. Ich stelle mir Bach heute als ungeheuer orthodox vor. Seine Lehren: sehr hermetisch, ohne Sollbruchstellen. Bach ist längst nicht so galant wie Telemann. Ich muss zugleich zugeben: So strikt bin ich aufgrund meiner Herkunft selber nicht. Ich kann das Rheinische nicht verleugnen.
2006 wurde die Musica Antiqua Köln aufgelöst. Ein trauriges Datum?
Nein, ich hatte es vorbereitet. Ich wollte mit 55 Jahren nicht mehr länger geigen. Und wissen Sie, ich wollte mein Erbe nicht riskieren und mit dem Ende des Ensembles für klare Verhältnisse sorgen.
Eine »fokale Dystonie« hatte Sie zuvor zum Umlernen von links auf rechts gezwungen. Wäre das dann nicht überflüssig gewesen?
Würde ich nicht sagen. Allerdings merkte ich rasch, dass es damit nichts wurde – weil ich Rechtshänder bin. Ich lebte vom Eingemachten. Wenn Geiger das tun, greifen sie bald zur Flasche. Von 32 bis 35 sind Sie als Geiger auf Ihrem Höhepunkt. Von da an geht’s bergab. Wem passiert, was mir passiert ist, der muss das als Warnzeichen sehr ernst nehmen. Dirigenten kriegen es im Rücken, Posaunisten fallen die Zähne aus. All das ist ein Zeichen: Nun reicht’s.
Vermissen Sie Ihre Geige heute?
Das Einzige, was ich vermisse, ist das Üben. Ich habe wahnsinnig gern geübt. – Heute könnte ich eigentlich fast sagen: »I hate music, but I love to conduct.«
Am Salzburger Mozarteum sind Sie seit 2010 Nachfolger von Nikolaus Harnoncourt. Worin weichen Sie von ihm ab?
Ich gehe analytisch einen anderen Weg. Ich glaube, dass Leopold Mozart einst zu seinem Sohn gesagt hat: »Du musst immer genau hinschreiben, mein Schatz, was du haben willst.« Allerdings bemühe ich mich sehr um eine Neubewertung des einmal Gelesenen. Wissen kann verfallen. Tempofragen sind wichtig. Aber es kann sein, dass wir alle falsch liegen.
Sie leben bis heute in Ihrer Heimatstadt Siegen. Ein gutes Verhältnis zu den Wurzeln!
Wenn ich am Nollendorfplatz in Berlin eingekauft habe, bin ich fix und fertig. In Siegen dagegen habe ich alle meine Bücher. Die Wände sind mit Rubens gepflastert. Meine Freundin Bine wohnte früher in dem Haus. Und wissen Sie, ich brauche keine Unterhaltung von draußen. Ich biete Unterhaltung, und ich liebe Ruhe.
Interview: Kai Luehrs-Kaiser