Pilgerfahrten gehören seit Angedenken zu den intensivsten religiösen Erfahrungen, die ein Mensch machen kann. Sich auf den Weg zu machen, um welchem Gott auch immer die Ehre zu erweisen, ist mit Entbehrungen verbunden, wird aber im Erfolgsfall nicht nur mit einer Option aufs Himmelreich verbunden, sondern auch mit spirituellem Erleben, das die Beteiligten der langen Reisen erleuchtet. So kommt es, dass auch Kompositionen, die im Umkreis solcher Pilgerfahrten oder auch durch sie inspiriert entstanden, häufig von besonderer Intensität des musikalischen Ausdrucks geprägt sind. Das veranlasste Paul McCreesh mit dem Gabrieli Consort, einen Weg durch die Jahrhunderte abzuschreiten und mit “The Road To Paradies” in ein Album münden zu lassen.
Man denke nur an den Jakobsweg. Genau genommen war es ein ganzes Netz an Pilgerpfaden, die vor allem im Mittelalter durch Frankreich und Spanien zum Grab des heiligen Jakobus des Älteren in der Kathedrale von Santiago de Compostela führten. Vier Hauptrouten hatten sich bis zum 12. Jahrhundert heraus kristallisiert, Abertausende Gläubige nahmen die Strapazen einer Reise quer durch Europa auf sich, zumeist erkennbar an den typischen Gewändern, der Kutte, dem Stab und der Jakobsmuschel. Es war mit Ausnahme der Kreuzzugsrouten der berühmteste Pilgerweg des Christentums, aber auch in anderen europäischen Ländern gab es ähnliche, viel frequentierte Routen. In England zum Beispiel konnte man sich nach Walsingham Abbey und Canterbury begeben, Melrose, Whithorn, Scone, Dundee und Paisley warteten in Schottland auf die Gläubigen und in Irland, das zu den am frühesten christianisierten Regionen Europas gehört, gab es zahlreiche, auch kleinere Ortschaften, die in Verbindung zu Leben oder Tod eines regionalen Heiligen standen und dementsprechende Devotionalien zur Verehrrung zu bieten hatten.
So hat sich eine reiche Tradition der Kirchenkunst entwickeln können, denn Pilgerorte ware immer auch ein Zentrum des Handels und des geistigen Lebens. Dazu gehörte von Anfang an ein eigenes musikalisches Repertoire, das sich mit den besonderen liturgischen Anlässen in Verbindung bringen ließ. Als sich Paul McCreesh daher für sein Vokalensemble “The Gabrieli Consort” nach einem Repertoire umtat, das eine mögliche Reise durch die geistliche Gesangskunst der vergangenen Jahrhunderte nachempfinden könnte, stieß der Spezialist für historische, behutsam im Sinne der Gegenwart modifizierte Aufführungspraxis auf eine opulente Fülle der Melodien, aus der er gemeinsam mit seinem Ensemble ein Programm destillieren konnte, das vom 16. Jahrhundert bis zu John Taverner reicht. Dabei kombiniert er geschickt Werke unterschiedlicher Epochen, lässt beispielsweise ein “Ave Maria” von Robert Parsons neben einem “A Hymn To The Virgin” von Benjamin Britten wirken, integriert ein “Nunc Dimittis” von Gustav Holst ebenso in den Ablauf wie das rund dreieinhalb Jahrhunderte früher entstandene “Miserere Nostri” von Thomas Tallis.
Pathetische Werke wie “In Pace In Idipsum” von John Sheppard, von dem ein Kritiker einmal meinte, es würde “die Götterdämmerung der Tudorzeit” beschwören, finden in dem Programm ebenso ihren Platz wie fragilere anonyme Gesänge wie “In Paradisum” oder “Jacet Granum – Prosa: Clangat pastor”. Mit faszinierendem Gespür für die Binnendifferenzierung des Vokalklangs vom Gabrieli Consort interpretiert entwickelt sich auf “The Road To Paradise” auf diese Weise ein grandioses Stimmungsbild auf der Basis musikalischer Spiritualität, das in der Huldigung des Erhabenen den Zuhörer ein wenig an dessen Größe teilhaben lässt.