Jóhann Jóhannsson war ein Meister darin, Geschichten eindringlich und vielschichtig in Musik zu übersetzen und den emotionalen Subtext der Bilder mit subtil wirkender Klangkraft freizulegen. Dabei hat sich Jóhannsson neben der Erarbeitung seiner intimen Konzeptalben insbesondere mit der Komposition einzigartiger Soundtracks einen Namen gemacht, etwa zu “Prisoners” oder "Arrival". Bei dem Film-Kunstwerk “Last and First Men”, das nun knapp zwei Jahre nach Jóhannssons Tod veröffentlicht wird, wagte der Komponist erstmals den Schritt über die Musik hinaus. So kreierte er hierfür nicht nur die Musik, sondern auch den filmischen Stoff und ließ Bilder, Erzählung und Klang eindringlich miteinander verschmelzen. Der entstandene Film hat nun bei der Berlinale seine Weltpremiere gefeiert und als berührendes Vermächtnis und ebenso beklemmendes wie faszinierendes Gesamtkunstwerk beeindruckt.
Jóhannsson hatte schon lange mit dem Gedanken gespielt, einen eigenen Film zu schaffen. Die inspirierende Grundlage zu “Last and First Men” fand er schließlich im Kunstbuch “Spomenik” des niederländischen Fotografen Jan Kempenaers, in dem Farbdrucke brutalistischer Kriegsdenkmäler zu sehen sind, die zwischen 1960 und 1980 in der ehemaligen jugoslawischen Republik errichtet wurden. “Die Spomeniks wurden von Marschall Tito, dem Diktator und Schöpfer Jugoslawiens, in Auftrag gegeben”, erklärte Jóhannsson. “Tito konstruierte diesen künstlichen Staat, ein utopisches Experiment, das die slawischen Nationen mit so vielen unterschiedlichen Religionen vereinte. Die Spomeniks waren als Symbole der Vereinigung gedacht. Die Architekten konnten keine religiöse Ikonographie verwenden, also schauten sie stattdessen auf prähistorische, Maya- und sumerische Kunst. Deshalb sehen sie so fremd und unirdisch aus”. Fasziniert von der symbolischen Komplexität und fremden Ästhetik dieser Spomeniks, verbrachte Jóhannsson mit dem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen einen Monat auf dem Balkan, und filmte die Denkmäler in ihrer Umgebung auf 16mm-Schwarzweißfilm. “Wir wollten diese Skulpturen auf formalistische Weise filmen, um ihre seltsame asymmetrische Schönheit zu betonen”, so Jóhannsson. Als begleitende Erzählung zu den forschenden Bewegungen der Kamera durch die fremden Landschaften wählte Jóhannsson den Kult-Science-Fiction Roman “Last and First Men” des Autors Olaf Stapledon, in dem dieser eine Geschichte des Sonnensystems über zwei Milliarden Jahre hinweg skizzierte. Für den Film wurde der melancholische Text von der renommierten schottischen Schauspielerin Tilda Swinton eingesprochen und lässt im Zusammenspiel mit den mystisch wirkenden Filmaufnahmen und Jóhannssons soghaft dichter Musik ein beklemmendes Stimmungsbild entstehen.
Eine frühe Version von “Last and First Men” wurde bereits im Juli 2017 im Rahmen des Manchester International Festival aufgeführt, damals mit Jóhannsson am Harmonium, begleitet von der dänischen Sopranistin Else Torp, der australischen Sopranistin Kate Macoboy und dem BBC Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Daníel Bjarnason. Diese unterschied sich gleichwohl stark von der Endversion des Films. Als Jóhann Jóhannsson am 9. Februar 2018 im Alter von 48 Jahren in Berlin verstarb, befand er sich mitten in der Überarbeitung seiner ersten Version des Stoffes und hatte sich hierzu bereits intensiv mit dem Berliner Komponisten und Klangkünstlers Yair Elazar Glotman ausgetauscht. Dieser wurde schließlich acht Monate nach Jóhannssons Tod damit beauftragt, den Soundtrack zu “Last and First Men” entsprechend der Vision von Jóhannsson zu beenden. Während Jóhannssons Kameramann und Regieassistent Sturla Brandth Grøvlen an der Fertigstellung des Films arbeitete, feilte Glotman fast ein Jahr lang an der Filmmusik und arbeitete statt mit Orchester mit einzelnen Musikern wie der Cellistin und Sängerin Hildur Guðnadóttir oder den Mitgliedern des innovativen Ensembles Theatre of Voices zusammen, die mit Jóhannsson über viele Jahre hinweg eng vertraut gewesen waren. So wurde die Fertigstellung des Films zur gemeinsamen Trauerarbeit und künstlerischen Vollendung von Jóhannssons Vision. “Last and First Men” bot denjenigen, die mit Jóhann gearbeitet hatten, eine Möglichkeit, zu seinem letzten Projekt beizutragen", so Glotman. “Es war eine Gelegenheit für mich und andere, mit seinem Verlust umzugehen. Wir wussten, dass dieses Projekt für Jóhann wirklich wichtig war. Es zu beenden, war unsere Art, sein Andenken zu ehren”.