Jóhann Jóhannsson war ein berührender Geschichtenerzähler. Wie kaum ein anderer vermochte es der isländische Komponist, atmosphärische Klangräume von emotionaler Dichte und soghafter Melancholie zu schaffen und den Sequenzen eines Films mit seiner Musik eine ungemeine Tiefe zu verleihen. Seit bereits drei Jahren war Jóhannsson Exklusivkünstler bei Deutsche Grammophon und arbeitete in dieser Zeit intensiv mit dem Label zusammen. Am vergangenen Freitag ist der Musiker in seiner Wahlheimat Berlin im Alter von nur 48 Jahren gestorben. Ein immenser Verlust für die Film- ebenso wie für die Musikwelt.
Jóhann Jóhannsson kam am 19. September 1969 in Reykjavik auf die Welt und war schon als kleines Kind von Musik fasziniert. Bald lernte er Klavier und Posaune, später spielte er in verschiedenen Rock-Bands und wuchs in die isländische Indie-Szene hinein. Über das Theater kam er in den 1990er Jahren schließlich zur Komposition. Sein erstes Album “Englabörn”, das 2002 veröffentlicht wurde, basiert auf Werken, die er ursprünglich für ein gleichnamiges Theaterstück geschrieben hatte. Bei seinen folgenden Alben kombinierte er Musik mit Konzepten. So entstanden Alben wie “Fordlandia” über gescheiterte Fabrik-Projekte, “The Miners Hymns” über den Streik englischer Minenarbeiter oder “IBM 1401” basierend auf Rechner-Kompositionen seines Vaters, der als Programmierer arbeitete. Auch sein letztes Studioalbum „Orphée“, an dem er über sechs Jahre hinweg arbeitete, erzählt eine Geschichte. Tief melancholisch klingt die Musik, die vom Loslassen, dem Beenden von Beziehungen und Neuanfängen erzählt. Als Filmkomponist erlangte Jóhannsson schließlich mit seiner Musik zum Film “Prisoners” im Jahr 2013 internationale Bekanntheit. Zwei Jahre später wurde er für seine Komposition zum Film “Die Entdeckung der Unendlichkeit” mit dem Golden Globe Award in der Kategorie Beste Filmmusik ausgezeichnet und weitere Hollywood-Projekte sollten folgen. Weltweite Anerkennung erhielt der Komponist auch für die experimentelle und außergewöhnliche Mischung aus Dronen-Klängen und menschlichen Stimmen im Science-Fiction Thriller “Arrival”. Gerade erst Anfang Februar 2018 wurde der Soundtrack zum Film “The Mercy” (deutsch: „Vor uns das Meer“) veröffentlicht, in dem Jóhannsson das ambivalente Psychogramm des Seglers Donald Crowhurst sensibel in vielschichtige Musik übersetzt.
Für sich stehende, absolute Musik stand für Jóhann Jóhannsson nie im Zentrum. Vielmehr reizte ihn das Zusammenspiel von Bild und Klang, von Geschichte und Musik. Als Komponist war Jóhannsson bei seinen Arbeiten stets auf der Suche nach neuen, nie zuvor gehörten Klängen. Vom Forschergeist getrieben und beseelt von den mannigfaltigen Nuancen insbesondere des Orchesters, spielte der Komponist in seinen Werken mit der Symbiose aus akustischen Instrumenten und Elektro-Sound und erschloss dabei immer wieder neue musikalische Räume.
In seinen Filmmusiken hat Jóhannsson Klanglandschaften von schwermütiger Weite komponiert, die ebenso reich an Farben wie konzentriert, ja mitunter minimalistisch in ihrer tonalen Gestaltung waren und eine maximale Ausdruckskraft erreichten. Mit feinem Sinn für die Zwischentöne, die fragilen Seiten eines Charakters und die unzähligen Facetten zwischenmenschlicher Beziehungen, deutete Jóhannsson die emotionalen Schattierungen der jeweiligen Geschichte aus. Dabei schuf er packende musikalische Psychogramme und spürte in seinen dichten Stimmungsbildern neben dem vollen elegischen Klang auch dem Zauber der Stille nach.
Jóhann Jóhannsson war einer der begabtesten Filmkomponisten seiner Generation und hinterlässt der Nachwelt einen kostbaren Schatz an einzigartigen musikalischen Stimmungsbildern und innovativen Klangschöpfungen. Bei seinen Kollegen, seinen Freunden und Partnern herrscht Fassungslosigkeit über seinen viel zu frühen Tod. Auch Deutsche Grammophon zeigt sich bestürzt: “Wir sind sprachlos und finden Trost in der Erinnerung an Jóhanns warme, tiefgründige Persönlichkeit, seinen trockenen klugen Humor und seine unnachgiebige, kompromisslose Suche nach neuen Klängen und Konzepten. Jóhanns akustische Landschaften sind so einzigartig, dass die Leere nicht zu füllen sein wird”, so das Label.
Mit Jóhann Jóhannsson hat die Welt einen Meister der musikalischen Erzählung verloren. Seine Stimme ist für immer verklungen. Seine Musik jedoch wird überdauern.