Für Grigory Sokolov zählt in der Musik nur eins: die künstlerische Güte und nichts als die künstlerische Güte. Das war in den letzten Jahren bei seinen Live-Aufnahmen so, von denen er nur die allerwenigsten, absolut hochwertigsten freigab, und ähnlich ist die Lage bei Filmmitschnitten seiner Konzertdarbietungen. Sokolov hat sich eine gesunde Portion Skepsis bewahrt. Er behält sich seine autonomen Entscheidungen vor und bleibt stets reserviert, wenn Projekte an ihn herangetragen werden. Er möchte wissen, ob die Sache auch wirklich gut ist, ob es ums Ganze geht.
So begegnete er selbst dem für seinen musikalischen Feinsinn bekannten Dokumentarfilmer Bruno Monsaingeon mit einer gewissen Skepsis, als der zum ersten Mal an ihn herantrat. Doch der Franzose überzeugte ihn. Im Jahre 2002 durfte er im Théâtre des Champs Elysées von Paris erstmals ein Konzert des russischen Pianisten mitschneiden. Das zweite Konzert, das dem Regisseur zum Mitschnitt gestattet wurde, ist bereits das soeben auf DVD erschienene Recital, das Sokolov am 5. Juni 2013 in der Berliner Philharmonie gab.
Mit diesem Recital hat es etwas Besonderes auf sich. Es enthält das gleiche Programm, das Sokolov auf seinem neuen, allerorts gefeierten Live-Doppelalbum “Schubert & Beethoven” zum Besten gab. Doch im Unterschied zu dem Album kann man Sokolov auf der DVD nicht nur hören, sondern ihm auch beim Spielen zusehen, und das ist ein Ereignis für sich. Sokolov ist ganz in sich gekehrt. Er geht mit äußerster Konzentration zu Werke.
Eine kurze Verbeugung vor dem Publikum, und prompt sitzt er am Flügel. Dann legt er los, mit Schuberts perlendem Impromptus in c-Moll, das er mit einer ungeheuren Leichtigkeit und sanften Fließbewegungen interpretiert. Er spielt die vier Impromptus (D. 899) und die drei Klavierstücke (D 946) von Schubert, bevor er sich Beethovens kolossaler Klaviersonate Nr. 29 in B-Dur (“Hammerklavier”) zuwendet.
Der Beginn ist soghaft. Sokolov steigert sich nach und nach in den poetischen Schubert-Kosmos hinein. Es ist wie ein Rausch, und trotzdem behält Sokolov die Übersicht. Bei Beethovens Klaviersonate Nr. 29 merkt man ihm die Spielfreude an. Während des wuchtigen Anfangs sieht man ihn zunächst aus der Vogelperspektive weit unten auf der Bühne. Die Kamera rückt dann langsam näher an ihn heran, bis man plötzlich spürt, dass dieses Heranzoomen mit der Musik korrespondiert.
Je näher die Kamera Sokolov kommt, desto intimer klingt auch die Musik. Eine überwältigende Wirkung, mit einem diskreten Mittel erzeugt. Bruno Monsaingeon ist kein Liebhaber schriller Effekte. Er ist eher ein Mann der Zwischentöne. Das hat er als passionierter Geiger, als hochgebildeter Musikschriftsteller und reifer Dokumentarfilm-Regisseur ein Leben lang unter Beweis gestellt, und das macht sich auch in seinem neuen Film bezahlt. Das Sokolov-Konzert ist mit sieben Kameras festgehalten worden.
Das filmische Konzept changiert zwischen respektvollem Abstand und einem durch schnelle Perspektivwechsel erzeugten Gefühl des musikalischen Mitschwingens. In den betörenden Miniaturen von Jean-Philippe Rameau, die Sokolov neben Brahms' überaus modern anmutendem Intermezzo in b-Moll als Zugabe spielt, ist dieses Mitschwingen kongenial verwirklicht. Monsaingeon rückt dem Pianisten diskret näher. Er verletzt nie seine Intimität. Wie Sokolov, so kommt es auch Monsaingeon auf die Musik an, und die vermittelt sich in seinem Film auf berührende Weise.