Grigory Sokolov hat seine Eigenheiten. Der russische Ausnahmepianist bevorzugt zum Beispiel die Live-Performance.
Im Gegensatz zur Studioaufnahme sieht er in dem spontanen Akt des Musizierens das größere Potenzial. Hier kommt es auf den Augenblick an. Ein großer Solist muss hellwach sein. Er muss auf die Sekunde hin Präsenz zeigen. So virtuos er auch spielt, so außerordentlich seine Fähigkeiten auch sind, er verfügt nicht über diesen einen Augenblick. Anders gesagt: Es kann misslingen. Die Interpretation kann schiefgehen. Live-Akte sind riskanter als Studioaufnahmen.
Grigory Sokolov hat es auf diesem Feld jedoch zu einer Meisterschaft gebracht, die jedes seiner Recitals zu einem Ereignis werden lässt. Der russische Ausnahmepianist gebietet über eine Technik, ein poetisches Einfühlungsvermögen und eine Coolness, die ihm alle Freiheiten auf der Bühne gestatten. Am Flügel ist Grigory Sokolov er selbst. Niemand kann ihn hier aufhalten, und so bewegen sich seine Konzertauftritte stets in einem Spektrum zwischen groß und ganz groß.
Wenn der Maestro dann einmal seine persönliche Rangliste offenbart und Aufnahmen zur Publikation freigibt, dann kann man sicher sein, dass er aus der Fülle des Materials einen Live-Mitschnitt der Extraklasse ausgesucht hat. So ist es auch diesmal. Nach “The Salzburg Recital” und “Schubert / Beethoven” wartet Sokolov jetzt mit dem dritten Live-Album in nur zwei Jahren auf. Was diesmal anders ist: Er ist in Orchesterbegleitung zu hören, und das hat insofern eine historische Qualität, als Sokolov seit Jahren nurmehr solo auftritt.
Es hat aber auch eine musikalische Dimension, erlebt man den eigenwilligen Pianisten, den viele Fachleute für den größten Tastenmagier unserer Zeit halten, hier doch als Teamplayer. Wer gedacht hätte, der individualistische Künstler mache sein eigenes Ding und nehme nicht viel Rücksicht auf das Orchester, der sieht sich getäuscht. Im Gegenteil: Sokolov kommuniziert, wenn er Mozarts hinreißendes Klavierkonzert in A-Dur zum Besten gibt, glänzend mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Trevor Pinnock.
In dieser fast schwebenden Interpretation aus dem Jahre 2005 stimmt einfach alles: die tänzerische Dynamik, das poetische Feingefühl und die glasklaren Harmonien. Mozart ist hier, vor allem in dem berührenden Adagio des zweiten Satzes, als moderner Visionär zu erleben, der das romantische Lebensgefühl eines Beethoven bereits vorwegnimmt.
Nicht minder aufregend und hervorragend abgestimmt klingt das berühmte Klavierkonzert Nr. 3 von Rachmaninov. Grigory Sokolov hat es im Jahre 1995 mit dem BBC Philharmonic unter der Leitung von Yan Pascal Tortelier aufgenommen. Der Pianist spielt es ungewöhnlich pointiert, so dass die farbreichen Harmonien des russischen Komponisten besonders schillernd zur Geltung kommen.
Dadurch erhält der melancholische, sehnsuchtsvolle Ton des gefühlvollen Klavierkonzerts eine eigentümliche Leichtigkeit, die das schmerzvolle Moment sanft abfedert. Eine ähnliche Stimmung verströmen die im Booklet abgedruckten Gedichte von Inna Sokolova, der Ehefrau des Pianisten. Besonders ergreifend: wie liebevoll sie ihn beobachtet, charakterisiert und in seinem Eigensinn annehmen kann.
Das Filmportrait von Nadia Zhdanova ist eine weitere wunderbare Beigabe dieses Albums. Hier erlebt man den Künstler in alten Filmaufnahmen als junges, aufstrebendes Klaviergenie und aus dem Blickwinkel seiner Weggefährten und Schüler. So werden Facetten einer hochsensiblen Künstlerpersönlichkeit sichtbar, die sich ganz der Musik verschrieben hat. Grandios!