Was wäre das Leben ohne Überraschungen! Gidon Kremer hielt gleich mehrere bereit, als er am 14. Dezember in Berlin auftrat. Das Recital fand in der Musikbrauerei statt, einer großräumigen Location am Prenzlauer Berg. In die Halle des Clubs gelangt man hier über eine lange Wendeltreppe.
Das Publikum schlenderte lässig hinauf, aber sobald die Leute in den Konzertraum traten, schien sich ihre Stimmung in hochgespannte Erwartung zu verwandeln. Die Gäste ahnten wohl schon, dass ihnen ein ungewöhnliches Ereignis bevorsteht, und so kam es dann auch.
Gidon Kremer führte Ausschnitte eines Filmprojekts vor, das er gemeinsam mit dem syrischen Künstler Nizar Ali Badr entwickelt hat. Präsentiert wurde ein Animationsfilm, der die leidvolle Situation der Flüchtlinge veranschaulicht: mühsam sich fortschleppende Steinfiguren, die immer wieder von Gewalt bedroht sind und verzweifelt um ihr Leben ringen. Ein ergreifendes Bild für die Beschwernisse der Flucht. Der Film wurde auf eine Mauer projiziert, und Gidon Kremer spielte dazu Weinberg, Stockhausen und Schumann.
Begleitet von seinem jungen Kammerorchester, der Kremerata Baltica, schuf der engagierte Geiger so eine tief nachdenkliche Stimmung, die zur ethischen Besinnung einlud. Im zweiten Programmteil beschenkte er das Berliner Publikum dann mit einem bunten Strauß tänzerischer, melancholischer und lyrischer Geigenklänge. Dabei spielte er sich zusehends in einen Rausch, und das Publikum reagierte mit immer heftiger werdendem Applaus. Sichtlich bewegt, griff der Geiger zum Mikro und bedankte sich überschwänglich.
Eine solche Begeisterung, eine solche Konzentriertheit habe er selten erlebt, so Kremer. Die Hörbereitschaft im Publikum sei großartig. Kremer verlängerte das Programm. Er wollte gar nicht mehr aufhören, und das Publikum konnte seinerseits nicht genug kriegen von seinem scharf geschnittenem, leidenschaftlich durchwirkten Spiel. Die Höhepunkte des zweiten Teils waren dabei ohne Zweifel Kreislers Preghiera und das Stück Liebesleid des österreichischen Komponisten.
Kremer führte mit diesen hinreißend sehnsuchtsvollen Klängen eindrucksvoll vor, wie sehr ihm melancholisch verträumte Musik mit tänzerischen Einlagen liegt. Diese romantische Qualität zeigte sich dann auch, als er im weiteren Verlauf des Abends Schnittke, abermals Weinberg, Piazzolla und schließlich Umebayashi interpretierte. Damit demonstrierte er dem Berliner Clubpublikum ein enormes Ausdrucksspektrum der Geige und machte das Abschlusskonzert der diesjährigen Yellow Lounge zu einem unvergesslichen Ereignis.
Kaum zu glauben, dass dieser quickfidele, vor Energie geradezu überströmende Künstler schon auf die 70 zugeht. Aber so ist es: Gidon Kremer wird am 5. Januar 70 Jahre alt, und aus diesem Anlass erscheinen Anfang nächsten Jahres zwei Alben, die das romantisch geneigte, nach gefühlsstarker Musik dürstende Publikum in Vorfreude versetzen dürften. In beiden Veröffentlichungen interpretiert Kremer Komponisten, mit denen er auch beim gestrigen Recital begeisterte. Bei ECM erscheint das Doppelalbum “Mieczyslaw Weinberg: Kammersymphonien Nr. 1–4”.
Darin widmet sich Kremer einem Komponisten, der ihm schon lange am Herzen liegt. Die nachdenklichen, von den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts gezeichneten Klanggemälde Weinbergs sind für Kremer “höchst persönliche Reflektionen eines Komponisten über sein Leben und das seiner Generation”. Mit großer Spannung darf auch das neue Kremer-Album bei Deutsche Grammophon erwartet werden. Darauf: Fritz Kreislers “Preghiera” und die beiden Trios élégiaques von Sergei Rachmaninow. Am Cello wird Gidon Kremer hier von Giedrė Dirvanauskaitė begleitet. Am Klavier sitzt: Daniil Trifonov!