Es gibt Kunstwerke, die so perfekt und schön sind, dass man nur staunen kann. Man fragt sich: Wie konnte ein menschliches Wesen so etwas schaffen? Wie geht es, dass eine Oper zugleich so unterhaltsam und tiefsinnig, so leicht und schwer, so tänzerisch und todtraurig ist?
Das Geheimnis der Genialität ist unergründlich. Man weiß nur: Es gibt diese Quadratur des Kreises. Es gibt Werke, in denen alles zusammenpasst, selbst das, was auf den ersten Blick eigentlich gar nicht zusammenpassen kann, und zu solchen Meisterwerken zählt Glucks berühmte Reformoper “Orfeo ed Euridice”. Schon das szenisch geschickt angelegte Libretto mit seiner spannungsgeladenen Handlung ist überwältigend. Der Verfasser, Ranieri de' Calzabigi, knüpft an den griechischen Orpheus-Mythos an und gibt ihm eine besondere Wendung.
Orpheus sitzt am Grab seiner geliebten Frau und verleiht seiner Trauer in einem ergreifenden Gesang Ausdruck. Wie im Mythos, so entschließt er sich auch bei Calzabigi, in die Unterwelt herabzusteigen und Eurydike den grausamen Göttern zu entreißen. Amor erscheint. Er sagt Orpheus, dass seine Trauer bei Jupiter Mitleid erregt habe, weshalb er ihm erlaube, lebendig in die Unterwelt herabzusteigen und seine Frau zurückzuholen. Unter einer Bedingung: Er darf sie, wenn er sie zurückführt, nicht anschauen.
Das Drama nimmt seinen Lauf. Orpheus weiß mit seinem Klagegesang zwar die Furien, Ungeheuer und den Höllenhund Cerberus zu bändigen, die ihn allesamt am Zugang zur Unterwelt hindern wollen. Aber sich selbst kann er nicht bändigen. Eurydike bricht irgendwann aus Verzweiflung zusammen. Sie hält es nicht mehr aus. Sie fühlt sich nicht mehr geliebt von dem beharrlich wegschauenden Orpheus. Der Sänger wird schließlich schwach und schaut sie an. Eurydike stirbt.
Doch Calzabigi hält noch einen Joker bereit: Amor. Als Orpheus sich umbringen will, weil ihm ein Leben ohne Eurydike sinnlos erscheint, hindert ihn der Liebesgott daran und lässt Gnade walten. Als Lohn für seine kompromisslose Liebe erhält Orpheus Eurydike zurück. Das Paar ist wiedervereint und kehrt selig zur Erde zurück. Weit davon entfernt, kitschig zu sein, wird so “Orfeo ed Euridice” der Triumph unbestechlicher Liebe verklärt, und die ebenso schöne wie maßgeschneiderte Musik Christoph Willibald Glucks verleiht diesem riskanten Pathos eine feste Gestalt.
Es versteht sich von selbst, dass ein so tiefer musikalischer und dramatischer Schatz nur gehoben werden kann von Künstlern der Extraklasse, und die sind in der jetzt erschienenen Archiv Produktion “Gluck: Orfeo ed Euridice” zahlreich vorhanden. Die Aufnahme der italienischen Originalfassung von Glucks Oper, der sogenannten Wiener Version von 1762, besticht in allen Bereichen der Darbietung. Das Insula Orchestra unter der Leitung von Laurence Equilbey interpretiert das Werk originalgetreu und erstmalig auf historischen Instrumenten. Das ergibt einen satten und doch gar nicht schweren Ton.
Mit dem argentinischen Sängerstar Franco Fagioli singt ein Countertenor die Rolle des Orpheus, der wie kaum ein anderer Gegenwartskünstler das Belcanto beherrscht und mit unfassbar schmiegsamen Koloraturen zu brillieren versteht. Von der Schönheit des Gesangs profitieren allerdings nicht nur die Hörer der CDs, die sich auf seinen Ariengesang freuen dürfen. Auch die Dramatik zerrt unmittelbar von der Schönheit des Gesangs: Schließlich wendet Orpheus das Schicksal auch durch seinen betörend schönen Klagegesang. Deshalb ist Glucks Oper auch eine Feier der Musik, und was für eine!
Überragend fallen die Auftritte der beiden Sopranistinnen Malin Hartelius und Emmanuelle de Negri aus. Malin Hartelius singt mit zarter Leidenschaft die hingebungsvolle Eurydike, und Emmanuelle de Negri verleiht dem Liebesgott Amor einen eindrucksvoll gnädigen Ausdruck. Das i-Tüpfelchen der Ausgabe ist das umfangreiche Booklet mit dem Libretto, den subtilen Fotos der Künstler und den ausgereiften Begleitessays. Erfreulich ist schließlich die dritte CD, die zu den beiden CDs mit der kompletten Aufnahme der Oper hinzutritt. Auf ihr befinden sich Highlights der Wiener (1762) und Pariser (1774) Version und man kann etwa in der “Air des Furies” einmal mehr die musikalische Klasse Glucks bewundern.