Daniel Barenboim hat in seinem Künstlerleben alles erreicht, was man erreichen kann. Als begnadeter Klaviervirtuose und hochgeschätzter Dirigent erwarb er sich in seiner inzwischen über siebzig Jahre währenden Laufbahn musikalischen Weltruhm. Jenseits der Konzertsäle und Aufnahmestudios machte er sich als Orchester- und Akademiegründer, Förderer des künstlerischen Nachwuchses und Friedensaktivist im Nahostkonflikt einen Namen, der durch die Mitgründung des West-Eastern Divan Orchestra und als Initiator der Berliner Barenboim-Said Akademie Maßstäbe der Völkerverständigung und musikalischen Bildung setzte.
Am 15. November 2022 feiert der preisgekrönte Grand Homme der internationalen Klassikszene nun seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass veröffentlicht Deutsche Grammophon jetzt ein Soloalbum von Daniel Barenboim, auf dem der Pianist seine liebsten Klavierzugaben präsentiert.
Das Album überrascht mit stillen Tönen. Daniel Barenboim gehört nicht zu den Pianisten, die das Publikum am Ende eines anspruchsvollen Konzertabends mit virtuosen Kapriolen überwältigen möchte. Seine Kunst der Zugabe ist eher träumerischer Art. Jedenfalls offenbart das Programm seines neuen Live-Albums eine deutliche Vorliebe für poetisch feinfühlige, romantische und impressionistische Klavierkunst.
“Encores”, so der Titel seiner aktuellen CD, versammelt brillante Miniaturen von Schubert, Schumann, Liszt, Debussy und Albéniz. Die Stücke kommen wie ein sanfter Hauch daher. Barenboim versteht es glänzend, sich in fließende Klangpoesie einzufühlen.
Mit Werken wie Schuberts Impromptu Nr. 3 in Ges-Dur oder Schumanns Träumerei aus dem Zyklus “Kinderszenen” lässt er sich viel Zeit, kostet jede Harmonie geduldig aus und gibt sich der träumerischen Grundstimmung der beiden Komponisten gefühlvoll hin. Am Impromptu begeistert der erhabene Ton, in der Träumerei die hinreißende Unschuld, die Barenboim am Klavier darzustellen versteht.
Hohe Virtuosität, nachdenkliche Tiefe und emotionale Heftigkeit bringt der Pianist in Schumanns Fantasiestück “Aufschwung” und in Chopins Etüde Op. 10, Nr. 4 in cis-Moll zum Ausdruck. Dagegen pflegt er in Stücken wie dem Tango von Albéniz oder in Debussys “Clair de Lune”, der einzigen Studioaufnahme des Albums, einen betont lässigen Stil. Man spürt hier den neugierigen Weltbürger Barenboim, der viel herumgekommen ist und unkonventionellen Klangwelten offen begegnet. Insofern spiegelt sich in der Musik des Albums auch die Persönlichkeit des großen Pianisten, der mit seinen Zugaben intime Einblicke in sein Denken und Fühlen gewährt.
Mit der physischen Veröffentlichung von Barenboims Album “Encores” läutet das Gelblabel die Feierlichkeiten zum Jubeljahr des argentinisch-israelischen Ausnahmekünstlers ein. Am 29. Juli kommt Barenboims wegweisende Interpretation von Mendelssohns Klavierzyklus “Lieder ohne Worte” neu heraus. Am 4. November folgt eine Edition mit Barenboims jüngster Lesart der vier Sinfonien von Schumann: Live-Mitschnitte von drei Konzertabenden mit der Staatskapelle Berlin in der Berliner Philharmonie und in der Staatsoper Berlin.