Beethoven kann zum Problem werden, insbesondere, wenn man sich wie Johannes Brahms gedankenvoll in dessen Nachfolge versteht: “Ich werde nie eine Sinfonie komponieren!”, meinte der Romantiker zu einem Freund, “Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört!” Doch mit der Zeit änderte Brahms dann doch seine Meinung, schon weil nach Beethovens neun Meisterwerken sich kaum noch jemand daran wagte, diese Tradition ernsthaft und konsequent weiter zu führen. So entstand Mite der 1870er Jahre schließlich seine erste Sinfonie, die es in der Meinung von Publikum und Kritik tatsächlich schaffte, an das Erbe des Titanen anzuknüpfen. Sie sei ein “Schlüsselwerk der Musikgeschichte”, meint auch Stardirigent Christian Thielemann, der sich mit den Münchner Philharmonikern an eine aktuelle Deutung wagt und sie, ebenso schelmisch wie konsequent, mit Beethoven “Egmont”-Ouvertüre kombiniert.
Die Spannung liegt dabei nicht nur in der musikalischen Vorlage als solcher, sondern auch in den Besonderheiten der Ausführung, die keine Unsicherheiten erlauben: “Brahms ist schwierig, und jeder kleine Übergang birgt ein Risiko in sich. Brahms fordert Strenge und Freiheit, Konkretisierung und Offenheit, Konventionen und Revolutionen. Das macht seine Musik so zeitgemäß, aber zugleich sind seine Symphonien so perfekt organisiert, dass sie jeden Fehler offenbaren.” Das gilt im Speziellen für das erste Werk seiner Art, das ein Resultat von langwierigen Kämpfen des Komponisten mit sich selbst war. Erste Versuche zu einer Symphonie hatte Johannes Brahms zu Beginn der 1860er Jahre verworfen und in eine Serenade integriert. In unregelmäßigen Abständen wandte er sich dem Thema immer wieder zu, in umfangreicher Auseinandersetzung mit Clara Schumann und dem Komponistenkollegen Albert Dietrich, mit denen er einzelne Stadien und Themen diskutierte. Anno 1868 schickte er seiner Freundin gar eine Postkarte mit dem Alphorn-Motiv, das später in das Finale des Werks integriert werden sollte.
So dauerte der Entstehungsprozess insgesamt rund 14 Jahre, bis 1876 eine Partitur vorlag, die Brahms der Aufführung für würdig befand. Die Zeit schien reif, zumal er selbst sich bereits durch Kompositionen wie sein “Deutsche Requiem” einen Namen gemacht hatte und davor ausgehen konnte, dass man seine Bemühungen mit dem nötigen Ernst würdigen würde. Tatsächlich äußerte sich die Kritik zunächst verhalten und ein wenig irritiert ob der Fülle der musikalischen Einfälle, das Publikum jedoch fühlte sich unmittelbar zur ersten Symphonie mit deren engen emotionalen Themen hingezogen. Bald zogen auch die Kollegen in ihrem Urteil nach, bis hin zu dem Bonmot Hans von Bülows, der das Orchesterwerk als Beethovens Zehnte bezeichnete. So oder so lohnt sich die Beschäftigung mit der ersten Symphonie, historisch wie auch aus der Perspektive eines zeitgenössischen Dirigenten wie Christian Thielemann: “Der Schritt von Beethoven zu Brahms ist hochspannend”, meint der Chef der Münchner Philharmoniker zu der Aufnahme, die im Juni 2005 im Münchner Gasteig entstand. “In harmonischen Fragen ist Brahms eigentlich zurückgegangen. Aber er war ein Bewahrer aus vollem Herzen. Gleichzeitig ist sein Gestus schwungvoller und romantischer als bei Beethoven”.
Für die Interpretation bedeutet das vor allem, eine besondere Aufmerksamkeit den musikalischen Feinabstufungen etwa beim Tempo, der Akzentuierung oder auch der Verknüpfung der einzelnen motivischen Passagen zu widmen. So nimmt sich Thielemann einige Freiheiten heraus, zum Beispiel am Schluss des ersten Satzes, als vom Komponisten die Einleitung noch einmal aufgenommen wird: “Ich werde da schon vorher langsamer, obwohl in den Noten nichts von ritardando steht. Ein Musikwissenschaftler könnte an dieser Stelle seine Bedenken äußern und darauf verweisen, dass Brahms die Partitur komplett ausgeschrieben hat. Das weiß ich natürlich auch, aber ich möchte diese Dynamik besonders betonen – und ich finde, dass er uns diese Freiheiten durchaus zugesteht.” Es ist daher kein Wunder, wenn die Aufnahme der Symphonie sich deutlich von anderen Referenzen unterscheidet. Denn es wird klar, dass hier zwei starke Persönlichkeiten aufeinander treffen, ein Komponist mit profunder Gestaltungskraft und ein Dirigent mit ungewöhnlicher Interpretationsgabe. So entsteht genau das, was man von Christian Thielemann erwartet: Etwas Besonderes, Unerhörtes!