Kein Album des Klassikmarktes wird zurzeit mit so großer Spannung erwartet als “Verismo” von Anna Netrebko. Die russische Starsopranistin hat in den letzten Jahren eine so fulminante Entwicklung genommen und ihrer stimmlichen Ausdruckskraft so überraschende Wendungen verliehen, dass selbst opernferne Hörerinnen und Hörer wissen wollen, wie sie jetzt klingt. Wie bewältigt sie das ebenso erdige wie gefühlsgeladene Repertoire des Verismo, dem sie sich seit geraumer Zeit widmet?
Bahnt sie sich einen Weg in den revolutionären Opernstil, der um 1890 bis etwa 1920 seine höchste Blüte erlebte und mit Meistern wie Francesco Cilea, Umberto Giordano oder Giacomo Puccini das dramatische Potenzial der einfachen Leute entfaltete? Sie hat sich ihren Weg gebahnt. “Verismo” ist der Beweis dafür, dass Rollen wie Cio-Cio-San (“Butterfly”), Floria Tosca oder Manon Lescaut der Netrebko glänzend zu Gesichte stehen und ihre Stimme in neue Gefilde führen, wo sie sich frei und wohl fühlt.
Anna Netrebko hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie auf neue Erfahrungen aus ist. “So bin ich nun mal”, bekennt sie im Trailer zu ihrem neuen Album. “Ich war immer jemand, der etwas Anderes, etwas Neues machen wollte. Etwas ausprobieren! Voranschreiten! Die Stufen erklimmen!” Mit Gewohntem gibt sie sich nicht zufrieden. Sie braucht die Abwechslung, und wie ertragreich diese Haltung in der Kunst ist, beweist sie jetzt auf ihrem neuen Album “Verismo”.
Mutig erkundet sie die dramatischen Facetten ihrer Stimme und fühlt sich mit großer Leidenschaft in die tragischen Konstellationen ihrer Heldinnen ein. Wenn sie “La mamma morta” aus Giordanos Meisteroper Andrea Chénier singt, dann geht sie ganz in der Rolle der Maddalena auf, die den Tod ihrer Mutter betrauert und auf die romantische Liebe als einzigen noch verbleibenden Trost im Leben setzt. Mit überwältigender Ausdruckskraft bringt sie diese Gefühle zur Geltung.
Man glaubt Anna Netrebko jedes Wort, das sie singt, und folgt den Texten, die im CD-Booklet abgedruckt sind, mit stockendem Atem. Und der stockt ihr auch selbst, wenn sie “Ecco: respiro appena” (“Seht, mir stockt der Atem”) singt und mit hauchzarter Stimme den Schöpfergeist der Kunst anruft, um dann immer kraftvoller und entschiedener ihre eigene Mittlerrolle als “Echo des menschlichen Leids” zu beschwören.
Diese Adriana aus Cileas Meisteroper Adriana Lecouvreur hat Herz. Sie wird von Anna Netrebko mit Leben gefüllt und kann als Spiegelung ihrer eigenen Rolle verstanden werden, die sie als Sängerin in ihrem Album übernimmt. Denn wie Adriana, so wird auch Anna Netrebko in den Arien, die sie singt, zu einer Vermittlerin der menschlichen Gefühle.
Ist es in der Arie “Un bel dì vedremo” die Sehnsucht nach der Rückkehr des Ehemanns, der sie als zart fühlende Butterfly mit flirrender Hochgespanntheit Ausdruck verleiht, so taucht sie in “L’altra notte in fondo al mare” aus Boitos Faust-Oper Mefistofele mit ergreifender Empfindsamkeit in Gretchens einsame Verzweiflung ein. Anna Netrebko ist eine Verwandlungskünstlerin ersten Ranges und eine große Interpretin dramatischer Arien. “Verismo”, ihr neues Album, ist ein eindrucksvolles Zeugnis hierfür.