Publikum und Fachleute sind sich einig: Anna Netrebko erklimmt in diesen Tagen Höhen der Gesangskunst, die sie zu einer Jahrhundertsängerin machen.
Ihre Ausnahmestellung unter den großen Sopranistinnen der Gegenwart ist seit langem unbestritten. Anna Netrebko hat schon in den frühen 1990er Jahren Kostproben ihrer Einzigartigkeit und ihres außerordentlichen Qualitätsanspruchs gegeben. Spätestens seit sie 1995 mit dem Petersburger Mariinski-Theater in San Francisco ein gefeiertes Gastspiel gab und die Ljudmila in Glinkas Oper “Ruslan und Ljudmila” sang, ist ihr Siegeszug durch die großen Häuser der Welt nicht mehr aufzuhalten.
Überall will man sie hören. Ihre Stimme übt eine magische Anziehungskraft aus. Das Publikum wittert die Einzigartigkeit dieser Künstlerin. Was jedoch in all den Jahren noch niemand ahnen kann, ist die enorme Wandlungsfähigkeit, die in ihr schlummert und zuletzt in immer feineren Abstufungen zum Vorschein gekommen ist. Netrebko verbindet dramatische und lyrische, kraftvolle und zarte Momente ihres Faches wie niemand sonst. Sie hält Gegensätze aus, an der jede andere Sängerin zerbrechen müsste.
Ihr neues Album Verismo, das bereits vorbestellt werden kann, bildet den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung, und in keiner Arie zeigt sich ihre Fähigkeit, aufs Ganze zu gehen und emotionale Spannungen bis ins Letzte auszureizen, eindrucksvoller als in “La mamma morta”. Die gefühlsgeladene Arie aus Umberto Giordanos Oper Andrea Chénier ist Netrebko wie auf den Leib geschneidert. Sie kann darin alles zur Geltung bringen, was sie ausmacht: ihre dramatische Kraft, ihr gesangliches Geschick und ihre überwältigende Ehrlichkeit. “La mamma morta” ermöglicht ihr diese Entfaltung, weil die Arie von echten Gefühlen handelt.
Maddalena, die Adelstochter, singt in der Arie von dem unsäglichen Schmerz, den der Tod der Mutter in ihr ausgelöst hat. Die Mutter war bei dem Versuch, ihre Tochter zu retten, von den französischen Revolutionären ermordet worden, und Maddalena drückt zu Beginn der Arie ihre Verzweiflung darüber aus. Einzig die Fürsorge ihres Dienstmädchens Bersa und die Aussicht auf Liebe, an die sie ein Engel gemahnt, bieten ihr in dieser Situation Halt. Doch als sie die Arie singt, steht die Liebe ihres Lebens, Andrea Chénier, vor dem unerbittlichen Revolutionstribunal.
Anna Netrebko fühlt sich grandios in die Rolle ein. Ihre Interpretation ist an Dramatik kaum zu überbieten. Ebenso zart wie inbrünstig bringt sie den Verlustschmerz zum Ausdruck, um danach in einer fulminanten Wendung die Liebe als lebensrettende Ressource zu beschwören. Man nimmt ihr jedes Wort ab. Sie verkörpert das, was sie singt. Sie vollzieht Maddalenas Schicksal nach. “Ich fühle es einfach”, so Anna Netrebko im Trailer zu ihrem neuen Album. “Maddalena erzählt ihre Geschichte sehr überzeugend und sehr berührend.”
Dasselbe ließe sich über Netrebkos Interpretation sagen, die den klassischen Aufnahmen von Maria Callas oder Renata Tebaldi eine ebenbürtige Version an die Seite stellt. Bei Netrebko klingt “La mamma morta” aufrichtig, bodenständig. Renata Tebaldis engelhafte Stimme bleibt in der Arie distanzierter, und die große Callas behält bei aller Gefühlsintensität einen Rest von Künstlichkeit bei. Netrebko durchlebt die Situation der Maddalena, und das macht ihre Interpretation so einzigartig. Ein Grund mehr, sich auf ihr neues Album zu freuen.
>> “La mamma morta” gibt es ab Freitag, den 12.08.2016 auf allen digitalen Plattformen zum Downloaden und Streamen.