Es war ein ungewöhnlicher Spitzname: der rote Priester. Aber da Antonio Vivaldi nicht nur 1703 die Priesterweihe empfangen hatte, sondern darüber hinaus auch auffallend rote Haare hatte, konnte er sich nicht wirklich gegen diesen Titel wehren. Venedig war mit gesellschaftlichen Bonmots schnell bei der Sache und als ihn eines Tages ein englischer Gast bei einem Konzert wegen seiner ungewöhnlichen Erscheinung für einen Eunuchen hielt, wurde natürlich auch amüsiert getuschelt. In der Regel allerdings herrschten Neid und Bewunderung vor. Denn Vivaldi war nicht nur einer der bedeutendsten Komponisten und Violinvirtuosen seiner Zeit, sondern hatte als Maestro di Violino auch die künstlerische Hoheit über ein beliebtes Frauenorchester der Stadt.
Das Ospedale della Pietà war zum einen ein Internat für Waisenkinder, auf der anderen Seite aber auch ein angesehenes Musikkonservatorium für Frauen. Im Jahr seiner Priesterweihe wurde Antoni Vivaldi dort zum Maestro di violino ernannt, anno 1716 bekam er den Titel Maestro de’concerti und so hatte er faktisch gesehen rund vier Jahrzehnte ein Orchester zur Verfügung, mit dem er viele seiner Werke zur Aufführung bringen konnte. Das hatte viele Vorteile, denn so konnte er im musikalisch gesellschaftlichen Leben seiner Heimatstadt ohne allzu großen Aufwand präsent blieben. Tatsächlich gehörten die Konzerte, die er als Solist mit dem Ensemble gab, zu den kulturellen Pflichtterminen. Darüber hinaus aber schieb Vivaldi rund fünf Dutzend Orchesterstücke, die weniger die Virtuosität eines einzelnen, als die kollektive Ausdruckskraft des Ensembles der Pietà beweisen sollte. Das war ein großes Glück für die Musikerinnen, allerdings ein Nachteil für die musikalische Überlieferung. Denn die “Concerti per archi” wurden aus diesem Grund als lokale Ereignisse eingestuft, was dazu führte, dass zu Lebzeiten Vivaldis gerade mal eines davon auch gedruckt wurde. Manche überdauerten die Zeichen der Zeit nur mit Mühen, das Konzert R 168 beispielsweise wurde in einer Quelle in Schweden wiedergefunden, andere stammen aus einem Manuskript für einen französischen Patron, das um 1720 entstand.
Die “Concerti per archi” machen einen wichtigen Teil von Vivaldis Schaffen aus, gehören aber noch immer zu den vernachlässigten Werken des Komponisten, weil mit ihnen kein einzelner Solist, sondern nur ein gut eingespieltes Ensemble glänzen kann. Insofern aber wundert es wenig, dass der Spezialist für Alte Musik, Cembalist und Orchesterleiter Andrea Marcon aus Treviso sich mit seiner aktuellen Aufnahme elf der Konzerte und einer “Sinfonia, R. 111A” widmet. Denn er hat mit den Venice Baroque Orchestra einen ausgezeichneten Klangkörper zur Verfügung, dessen Stärken neben der künstlerischen Präsenz auch in der ausgewogenen Balance der musikalischen Gesamterscheinung liegt. Gegründet 1997 mit einigen der versiertesten Orchestermusiker Italiens hat es sich unter seiner Leitung inzwischen zu einem von Amerika bis Japan anerkannten Spitzenensemble gemausert, das mit Solisten wie den Labèque-Schwestern oder dem Geigenstar Giuliano Carmignola während der vergangenen Jahre zahlreiche internationale Erfolge vorweisen konnte. Die im Oktober 2005 in der Abazzia di Rosazzo in Manzano entstandenen Aufnahmen der “Concerti e Sinfonie per archi” knüpfen nun unmittelbar an den hohen Anspruch der Vorgängeralben an und dokumentierten eine kollektive Ausdruckskraft, die den selten gespielten Werke eine angemessene Würdigung zuteil werden lässt und ihren künstlerischen Wert weit über die behauptete Funktionalität als lokales Repertoire der Damen der Pietà belegt. Vivaldi entwickelt hier Kraft jenseits der Kraftmeierei, lyrische Finesse, manchmal sogar eine Form von barockem Swing, der den Orchesterstücken gut bekommt. So kann man das neue Album von Marcon und den seinen in jeder Hinsicht empfehlen, sei es als Einstieg für Barock-Novizen, sei es als Novitäten-Schatz für Spezialisten, die nach seltenen Repertoire-Highlight des venezianischen Maestros suchen.