Mit dem ersten Band seines Wohltemperierten Claviers unternahm Bach 1722 eine Entdeckungsreise durch den gesamten Tonartenkreis, gedacht »zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden«, wie es auf dem Titelblatt der Sammlung heißt. Und in gewisser Hinsicht bleibt es ein Rätsel, warum Bach 20 Jahre später einen zweiten Band in Angriff nahm, während er schon mit dem umfangreicheren, als künstlerisches Testament gedachten Projekt der vierbändigen Clavier-Übung beschäftigt war.
Vielleicht lag es daran, dass er zu dieser Zeit mit Johann Friedrich Agricola, Johann Kirnberger und Johann Christoph Altnickol einige sehr gute Schüler hatte, und wie alle seine anderen Schüler vor ihnen mussten auch diese drei Musiker im Rahmen ihres Unterrichts die Werke ihres Lehrers abschreiben. Zusammen mit Bachs unvollständig erhaltenem Autograph (das heute im British Museum liegt) sind ihre Kopien wichtige Quellen im Hinblick auf die Verbesserungen und Veränderungen, die Bach im Laufe der Jahre vornahm.
Besonders interessant sind dabei Bachs Revisionen im Manuskript seines zukünftigen Schwiegersohnes Altnickol, die vermutlich während der Unterrichtsstunden am Instrument entstanden, denn sie zeugen von seiner fortdauernden kreativen Beschäftigung mit dem Material und von seinem lebenslangen Bemühen, sich in seiner Kunst weiter zu vervollkommnen. Und dies mag, neben rein praktischen Überlegungen, auch ein Grund dafür gewesen sein, dass er bei einigen Präludien und Fugen in diesem zweiten Band älteres Material wiederverwendete. Besonders aufschlussreich sind die Hintergünde der C-Dur-Stücke, mit denen Bach erst begann, als bereits zwei große Blöcke von Präludien und Fugen für den zweiten Band vorlagen. Zunächst hatte er alle Haupt-Tonarten komponiert, bevor er sich die schwierigen Tonarten vornahm (für die er oft einfach ältere Werke transponierte und überarbeitete; so basiert das Cis-Dur-Präludium auf einem Stück in C-Dur). Als letztes nahm er sich die Stücke in As-Dur und C-Dur vor, wobei er lediglich das As-Dur-Präludium neu komponiert zu haben scheint. Für die anderen Stücke überarbeitete er Material, das bereits 1720 entstanden war, also noch vor Abschluss des ersten Bandes. Das C-Dur-Präludium geriet dabei in der neuen Fassung doppelt so lang wie das Original, und in späteren Revisionen fügte Bach weitere Details und Verzierungen hinzu und verstärkte so noch den improvisatorischen Charakter dieses Stücks.
Alles in allem stellen die 24 Präludien und Fugen des zweiten Bandes, im Unterschied etwa zu den Goldberg-Variationen, keine besonderen Anforderungen an die Fingerfertigkeit des Interpreten. Sieht man von einigen heiklen Trillerpassagen ab, so scheint es hier weniger um musikalische Ausbildung und Perfektionierung der Spieltechnik zu gehen als in den 24 Präludien und Fugen des ersten Bandes von 1722. Die Herausforderung besteht vielmehr in der Auseinandersetzung mit den neuen Aspekten von Bachs Kompositionstechnik und musikalischem Ausdruck. Wenn ich diese Stücke spiele, habe ich immer das Gefühl, als habe Bach sie mindestens ebenso sehr für sich selbst wie für andere geschrieben und als wollte er hier neue Ideen und Spielfelder erkunden, den gerade aufkommenden »galanten« Stil erproben, die Grenzen der überkommenen Formen austesten und seine geliebte Chromatik mit neuer Freiheit auf die Spitze treiben.
Auch wenn Bach wohl bei keinem der beiden Bände des Wohltemperierten Claviers an eine Druckausgabe dachte, so muss ihm klar gewesen sein, dass diese Musik dank der vielen Abschriften seiner Schüler rasch Verbreitung finden würde, vor allem im stetig wachsenden Kreis seiner Bewunderer. Doch er konnte nicht ahnen, wie einflussreich und omnipräsent seine Musik in den 300 Jahren nach ihrer Komposition werden würde.
Im Wien der großen Klassiker spielte Baron Gottfried van Swieten, ein aus den Niederlanden stammender Diplomat, mit seiner Privatbibliothek eine berühmte Rolle bei der Verbreitung von Bachs Musik. Der Baron war ein ausgewiesener Bach-Kenner, da er in seiner Jugend in Berlin Unterricht bei Kirnberger gehabt hatte und über ihn in einer direkten Beziehung zum zweiten Band des Wohltemperierten Claviers stand. Haydn, Mozart und Beethoven waren bestens vertraut mit der Musikaliensammlung des Barons, und in einem Brief an seinen Vater schilderte Mozart anschaulich die regelmäßigen Zusammenkünfte im Hause van Swieten: »Ich gehe alle Sonntage zum Baron van suiten – und da wird nichts gespielt als Händl und Bach. – ich mach mir eben eine Collection von den bachischen Fugen.« Für diese Sonntagsmusiken entstand Mozarts Streichquartettfassung von fünf Fugen aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Claviers und vielleicht auch die Bearbeitung der beiden Fugen in Fis-Dur und fis-Moll für Streichtrio.
Beethovens frühe und enge Beziehung zum Wohltemperierten Clavier ist allgemein bekannt, und im März 1783 hieß es in einem begeisterten Zeitungsbericht aus Bonn über den gerade einmal 12-jährigen Musiker: »Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Clavier … und um alles in einem zu sagen: Er spielt größtenteils das Wohltemperierte Clavier von Sebastian Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben.« In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass viele Pianisten meiner Generation das Wohltemperierte Clavier in der Ausgabe des Beethoven-Schülers Carl Czerny kennengelernt haben.
Auch die Begeisterung der frühen Romantik für Bach ist bestens belegt, und einen wichtigen Wendepunkt markierte dabei die »Wiederentdeckung« seiner Musik durch Felix Mendelssohn. Großen Anteil an diesem Ereignis hatte sicher die Tatsache, dass seine Schwester Fanny, ganz in der Bach-Tradition der Berliner Sing-Akademie stehend, regelmäßig Präludien und Fugen von Bach spielte.
Viele von Chopins Schülern berichteten von seiner Liebe zu Bachs Musik und dass er sie stets dazu angehalten habe, das tägliche Klavierüben mit Stücken aus dem Wohltemperierten Clavier zu beginnen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein kürzlich wiederentdecktes Exemplar des ersten Bandes des Wohltemperierten Claviers aus Chopins Besitz, das er um 1828 mit Anmerkungen für einen seiner Schüler versehen hat. In den Noten wimmelt es von handschriftlichen Metronomangaben und Spielanweisungen (Allegro, Legato usw.). Darüber hinaus hat Chopin mit einem sehr eigenwilligen System die verschiedenen Einsätze der Fugenthemen markiert und an einigen Stellen sogar den Notentext geändert und »korrigiert«. Ich denke, dabei ging es ihm nicht um Besserwisserei, aber vermutlich war er der Meinung, er habe eine ganz besonders enge Beziehung zu Bach und seiner Musik.
Etwas später formulierte der mit Mendelssohn und Chopin eng befreundete Robert Schumann 1850 geistreich und amüsant seine Musikalischen Haus- und Lebensregeln, die als Einleitung zu seiner eigenen Sammlung mit Stücken für den Klavierunterricht, dem Album für die Jugend, dienen sollten: »Spiele fleißig Fugen guter Meister, vor allem von Joh. Seb. Bach. Das Wohltemperierte Clavier sei dein täglich Brot.«
Selbst Wagner suchte gegen Ende seines Lebens, als er von 1877 bis 1882 in Bayreuth an seinem Parsifal arbeitete, eher bei Bachs Wohltemperiertem Clavier nach Inspiration als bei Beethoven. Seine Familie berichtete, wie gern er sich in diesen Jahren Bachs Präludien und Fugen von einem seiner Jünger, dem Pianisten Joseph Rubinstein, vorspielen ließ oder auch von seinem Schwiegervater Franz Liszt. Und seine Tochter erinnerte sich, dass er sich mitunter selbst ans Klavier setzte, um diese Stücke zu spielen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es wohl keinen Komponisten oder Interpreten, den Bachs Musik kalt gelassen hätte. So floh Gustav Mahler jeden Sommer vor dem Wiener Trubel und Lärm in die Sommerfrische nach Südtirol, wo er sich als Komponist wiederfinden wollte und oft ganze Tage lang nichts anderes tat, als Bachs Präludien und Fugen zu spielen.
Etwa zur selben Zeit verlieh in Paris Mahlers Zeitgenosse Debussy seiner Begeisterung für Bach wie folgt Ausdruck: »In vielen von Bachs Werken findet man jene ›musikalische Arabeske‹ … jenes Prinzip des ›Ornaments‹, das die Grundlage jeder Art von Kunst darstellt (und das nichts mit dem zu tun hat, was musikalische Lehrbücher unter ›Ornament‹ verstehen). Die alten Meister Palestrina, Vittoria, Orlando di Lasso usw. bedienten sich dieser göttlichen ›Arabeske‹ … Bach nahm die Arabeske wieder auf und machte sie biegsamer, flüssiger. Trotz der strengen Ordnung, in die der große Meister sie stellte, konnte sich die Schönheit mit jener freien, unaufhörlich zu neuen Gestalten drängenden Fantasie bewegen, die uns bis heute staunen lässt.«
Längst hat Bachs Wohltemperiertes Clavier durch Konzerte und Einspielungen den Rahmen der Hausmusik verlassen und die große Bühne erobert. Die bahnbrechenden Interpretationen von Edwin Fischer, Wanda Landowska und Gustav Leonhardt gehören zu einer Flut von Einspielungen, unter denen sich viele Schätze finden. Als Hörer mag man versucht sein, dabei nach der »einen« Aufnahme zu suchen, die man als »definitiv« empfindet. Doch für den Interpreten ist jedes Konzert und jede Aufnahme nur ein weiterer Schritt auf dem langen Weg des Lernens, auf dem wir unseren berühmten Vorgängern folgen und Bach bei seiner Suche nach der Unendlichkeit begleiten.
Trevor Pinnock
London, September 2021
Übersetzung: Verena Sierig