Schon nachmittags zogen der Doge und seine engsten Vertrauten zur Christmette nach San Marco. Was sie hörten, bis es Mitternacht wurde, haben jetzt Paul McCreesh und das Gabrieli Consort auf CD gebannt.
Zu Gabrielis Zeiten wäre es undenkbar gewesen, am Heiligen Abend die Christmette vor dem Anbruch des ersten Weihnachtsfeiertages, also vor Mitternacht zu feiern. Der Papst hatte es verboten. In Venedig jedoch galt eine Ausnahme: vielleicht, weil nach örtlichem Brauch der Regent der Stadtrepublik, der “Doge” und seine engsten Berater, die “Signoria”, schon seit der Mittagszeit in der Kirche sein mussten? Jedenfalls durfte man in San Marco schon um halb sieben am Heiligabend beginnen, Weihnachten zu feiern und tat dies mit so viel Prunk, wie es für die Repräsentation der mächtigsten Republik im Mittelmeer angemessen schien. Goldbrokat und Weihrauch muss man sich in der Fantasie vorstellen: Die Musik, die bei einer solchen Weihnachtsmesse im Dom zu Venedig vielleicht erklang, kann man jetzt aber ganz real hören. Sie ist von Paul McCreesh und seinem Gabrieli Consort mit großer Sorgfalt rekonstruiert worden. Um 1560 begann in Venedig eine der gro§en Revolutionen der Musikgeschichte, die Emanzipation der Instrumentalmusik – vorangetrieben von den Brüdern Gabrieli, den Namenspatronen des Ensembles.
Die Musik der Gabrieli-Brüder ist auch in der vorliegenden Mess-Einspielung hinterlassen. An jenen Stellen der Messe, deren Text von Tag zu Tag wechselte – also etwa das Stufengebet vor der Lesung des Evangeliums oder das “Offertorium” zur Gabenbereitung -, wird hier nämlich nicht mehr eine Motette gesungen, sondern instrumental musiziert. Gesungen wird natürlich auch mit der von McCreesh und seinen Mitstreitern gewohnten Klangpracht und Intensität, und zwar die im “Ordinarium”, also die wiederkehrenden Teile der Messe, enthaltenen Texte wie Kyrie, Gloria, Credo. Sie erklingen in der prunkvoll vielstimmigen Missa “Praeter rerum serium” des Cipriano de Rore. Wer einmal Weihnachten feiern will wie ein Doge, der liegt mit dieser gelungenen Rekonstruktion auf jeden Fall richtig.