Es ist vollbracht. Vier Jahrzehnte arbeitete er an diesem gewaltigen Opus, und er machte es sich wahrlich nicht leicht damit. Die Technik beherrscht er wie aus dem Effeff. Es gibt wohl kaum einen Pianisten, der mit einer solchen Leichtigkeit die kompliziertesten Werke der romantischen Literatur zu spielen versteht. Ob Brahms, ob Chopin oder Liszt – es mag noch so kompliziert sein, bei Maurizio Pollini klingt es entspannt, unakademisch, organisch. Die romantische Musik liegt ihm einfach im Blut.
Gewaltiger Anspruch
Aber es gibt noch eine andere Seite dieses Grandseigneurs der europäischen Klavierkunst, und das ist der gewaltige Anspruch, den er an sich selbst stellt. Bis heute hat dieser äußerst sympathische, diskrete Mailänder, der in seiner Laufbahn alles erreicht hat, was man erreichen kann, Lampenfieber bei Live-Auftritten. Er nimmt das Publikum ernst. Er fühlt sich verantwortlich. Jeder Moment zählt. Die Intensität des Ausdrucks kennt keine Routine. Sie will immer wieder aufs Neue errungen werden. Dabei ist Pollini weit davon entfernt, sich sinnlos zu zerknirschen. Er hört sich zum Beispiel immer noch gerne seine alten Aufnahmen an. Viele seiner Chopin-Interpretationen schätzt er bis heute.
Richtiger Augenblick
Und doch bleibt da eine noble Distanz zu seinen unbestreitbaren pianistischen Fähigkeiten. Er hält sie nicht für einen Selbstläufer. Es gibt, wenn es um den richtigen Ausdruck geht, keine Garantie in der Musik. Der rechte Augenblick muss abgepasst werden, und das erklärt vielleicht, warum Pollini sich mit den 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens so viel Zeit gelassen hat. Die Klaviersonaten des “rheinischen Rebellen” – das ist nicht irgendein Klavierwerk, das ist ein Kosmos, eine musikalische Offenbarung, und Hans von Bülow hat sie deshalb mit Recht als das “Neue Testament” der Klavierliteratur bezeichnet.
“Neues Testament”
Die musikalische Botschaft des Werkes: Gefühlsintensität, individueller Ausdruck bei gleichzeitiger formaler Strenge. Beethoven ist das leidenschaftliche Temperament schlechthin. Aber er ist auch der große Bezwinger, der die Gewalt des Ausdrucks in eine angemessene Form zu gießen versteht. Seine expressive Spannbreite reicht von enormen eruptiven Ausbrüchen bis hin zu zärtlichster Poesie. Oft geschieht dies alles an einem einzigen Ort, wie zum Beispiel in der Mondscheinsonate, die mit einem süßen melancholischen Gesang beginnt, in einem freudig-tänzerischen Satz fortgesetzt wird und in einem furiosen Presto agitato endet.
Spannung und Leidenschaft
Pollini vermag die darin angelegte Spannung aufzubauen wie kein anderer. Sein weicher Anschlag lässt ihn tief eindringen in die zärtliche Atmosphäre des Anfangs, und seine unfassbare Sicherheit bei vollgriffigen Passagen ermöglicht ihm die volle Ausreizung der temperamentvollen Ekstasen Beethovens. Mit diesem Repertoire an technischen und poetischen Möglichkeiten erschließt er sich den gesamten Kosmos der Klaviersonaten. Ob in der wilden und ebenso erhabenen Appassionata (f-Moll, op. 57), in der melancholischen Pathétique (c-Moll, op. 13) oder der enthusiastischen Waldstein-Sonate (C-Dur, op. 53), ob in der grenzsprengenden Hammerklavier-Sonate (B-Dur, op. 106) oder den vielen weniger bekannten Wunderwerken voller Leidenschaft, Klangschönheit und Gefühlsintensität, Pollini kostet stets das ganze Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten aus. Er lässt keine klangliche Perle unbeachtet, und das macht seinen Zyklus, der ab sofort in einer eleganten Box mit 8 CDs erhältlich ist, so ungeheuer reich.