“Dieser Sänger läßt den Hörer nicht los, schlägt ihn tatsächlich vollständig in den Bann, erlaubt ihm keine Sekunde der ‘Erholung’, fordert pausenlos das Äußerste.” Mit diesen eindringlichen Worten beschreibt der Musikkritiker Wolf-Eberhard von Lewinski das künstlerische Ethos Dietrich Fischer-Dieskaus. Dass der Kompromisslose zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Klassikinterpreten des 20. Jahrhunderts zählt, muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Denn einerseits sind die einzigartige Wirkungsgeschichte und die anhaltende Popularität des lyrischen Baritons untrennbar mit dem deutschen Kunstlied verbunden, einer “vielen Zeitgenossen als unzeitgemäßes Relikt des 19. Jahrunderts” erscheinenden Gattung, wie der Spiegel 1964 in einer Eloge auf den damals 39-Jährigen schrieb. Und andererseits steht Fischer-Dieskaus Kunstauffassung in deutlichem Kontrast zu verbreiteten Phänomenen im zeitgenössischen Klassikbetrieb, wie der Entfaltung von Pop-Mechanismen, der Kurzlebigkeit vieler Künstlerkarrieren und breitenwirksamen Crossover-Events.
Inbegriff eines Liedersängers
Ein Klassik-Open Air mit Dietrich Fischer-Dieskau? Das hätte es nicht gegeben. Er gab ja nicht einmal Gastspiele, um sich stets so intensiv wie möglich auf seine Darbietungen vorbereiten zu können. Im Gespräch mit Eleonore Büning erklärte der Bariton einmal: “Klassische Musik steht für mich im Gegensatz zum bloß Schematischen und zum rein Unterhaltenden, zur grassierenden Passivität und zum Unernst des reinen Genusses, der per se ja nicht verächtlich ist, aber ein anderes Bedürfnis als das nach Kunst befriedigt.” Mit staunenswerter Gesangtechnik, einzigartiger Sprachverständlichkeit, wachem Intellekt und tief empfundener Emotionalität, mit seinen nach thematischen und ästhetischen Gesichtspunkten akribisch ausgearbeiteten Programmen und einer kammermusikalisch geprägten Auffassung des Verhältnisses zwischen Sängern und Pianist, in der beide als gleichberechtigte Mitgestalter agieren, wurde Fischer-Dieskau zum Erneuerer des Liederabends. Weit über die Landesgrenzen hinaus genoss er nicht nur den Ruf als Inbegriff eines Liedersängers, sondern er verkörperte auch das friedfertige und zivilisierte Nachkriegsdeutschland.
Querschnitt aus der Diskographie des Jahrhundertsängers
Mehr als 4.800 Einträge beinhaltet seine Diskographie, darunter neben den Kunstliedern von nahezu 100 Komponisten auch geistliche Musik, Orchesterlieder, Kantaten, Oratorien und eine Fülle von Opernwerken. Als Meilenstein seines Schaffens gilt die “Winterreise” von Franz Schubert. Immer wieder wendete er sich dem Werk aufs Neue zu. Erstmals sang er den romantischen Liederzyklus 1948 für den Radiosender RIAS, sieben Mal nahm er das Werk im Verlauf seiner Gesangskarriere für Schallplatte bzw. CD auf, dreimal allein für die Deutsche Grammophon, gemeinsam mit Langzeitbegleiter Gerald Moore sowie mit den Pianisten Jörg Demus und Daniel Barenboim. Zudem machte sich Fischer-Dieskau um eine Neubewertung der Lieder Beethovens verdient, setzte er sich als Sänger und Schriftsteller intensiv mit dem Leben und Schaffen des Liedkomponisten Hugo Wolf auseinander und hinterließ Referenzaufnahmen der Lieder Mahlers, Brahms' und Schumanns. Zum Andenken an den Jahrhundertsänger veröffentlicht Deutsche Grammophon “The Art of Dietrich Fischer-Dieskau” mit einer Auswahl seiner bedeutendsten Aufnahmen, darunter Auszüge aus Schuberts Liederzyklen “Winterreise” und “Schwanengesang”, den Rückert-Liedern von Mahler, Wolfs Mörike-Liedern und aus Opernwerken von Mozart und Wagner.