Durch die Klassikwelt weht ein frischer Wind. Tausende von Menschen pilgern inzwischen wie selbstverständlich zu Open-Air-Konzerten mit ernster Musik. Die ungezwungene Atmosphäre solcher Veranstaltungen lockt Publikum aller Gesellschaftsschichten und Generationen an. Die Zeit, in der sich das Wort Klassik mit einer verklemmten Steifheit verband, scheint endgültig vorbei. Die sensationell besuchten Freilichtkonzerte in der Berliner Waldbühne sind der wohl schlagendste Beweis hierfür.
Daniel Barenboim hat zu dieser Demokratisierung des Konzertbetriebs maßgeblich beigetragen. Der weltgewandte Dirigent weiß wie kein anderer auf dem schmalen Grat zwischen hoher Kunst und entspannter Unterhaltung zu wandeln. Am gestrigen Abend untermauert er diese seltene Begabung mit dem legendären West-Eastern Divan Orchestra wieder eindrucksvoll. Barenboim startet mit der herrlich beschwingten Polonaise aus Tschaikowskys Oper “Eugen Onegin”.
Das Publikum ist nach diesem furiosen Auftakt hellwach, als im Anschluss daran die georgische Stargeigerin Lisa Batiashvili die Bühne betritt. Daniel Barenboim kooperiert seit Jahren mit der versierten Solistin. Gemeinsam haben sie ein allseits bewundertes Album mit Tschaikowskys Violinkonzert in D-Dur produziert. Jetzt spielen sie dieses Konzert erneut, und dabei fügt sich der sehnsuchtsvoll gespannte Ton von Tschaikowskys Komposition großartig in die zum Verlieben schöne, sommerlich flirrende Atmosphäre der Waldbühne.
Auf den oberen Rängen scheint noch die pralle Sonne, als sich Lisa Batiashvili immer heftiger in die leidenschaftlichen Ekstasen des mitreißenden Violinkonzerts zu steigern beginnt. Das Publikum quittiert dies mit frenetischem Beifall. Vereinzelt sieht man träumerische Blicke in die Baumkronen hinter der Bühnenüberdachung schweifen, als sich die georgische Geigerin im zweiten Satz, der berühmten Canzonetta, von ihrer zärtlich-lyrischen Seite zeigt und ungeheure Tiefen des romantischen Lebensgefühls durchmisst.
Nach dem aufwühlenden Werk von Tschaikowsky ist eine Pause dringend nötig, bevor Daniel Barenboim das Publikum im zweiten Teil des Programms in die Moderne entführen kann. Er tut dies mit Kompositionen von Claude Debussy, deren überwältigende Farbenfülle er intensiv zum Leuchten bringt. Mit “Prélude à l’après-midi d’un faune” erklingt ein Orchesterklassiker der Avantgarde, der nurmehr von Ferne an das romantische Erleben erinnert. Geblieben ist der Glaube an den hohen Wert der Sehnsucht und der Einbildungskraft des Menschen.
Doch Debussy löst die romantische Phantasie aus den traditionellen Hörgewohnheiten heraus. Um die erotisch gefärbten Tagträume des Fauns aus Mallarmés inspirierendem Gedicht in hörbare Poesie zu verwandeln, schafft Debussy ureigene Klangfarben, die jenseits klassisch-harmonischer Vorgaben frei fließen dürfen. Dass der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind, dieser freisinnigen Geste von Debussy verleiht das West-Eastern Divan Orchestra glänzend Ausdruck.
Die überwiegend lyrischen Klangströme von “Prélude à l’après-midi d’un faune” entschwinden sanft im dunkler werdenden Berliner Himmel, bevor das wie entfesselt aufspielende Orchester mit Debussys mal wild wirbelndem, mal organisch fließendem “La Mer” den spannungsvollen Schusspunkt des Programms setzt. Nach drei Zugaben tritt Daniel Barenboim sichtlich bewegt ans Mikro, bedankt sich überschwänglich beim Publikum und legt mit der Ouvertüre zu Bizets Oper “Carmen” noch einen echten Evergreen aufs Parkett. Perfekt!