Es ist eine Besonderheit barocker Musik, dass man immer wieder zu ihr zurückkehrt. In der Jugend erscheint sie tänzerisch und leicht, manchmal auch verspielt und angenehm leicht. Hat man schon ein wenig Erfahrung hinter sich gebracht, erschließen sich hingegen die Feinheiten dieser Klangkunstwerke, die oft mit einer raffinierten Doppelbödigkeit der Bedeutungen arbeiten. So ging es auch der schwedischen Mezzo-Sopranistin Anne Sofie von Otter mit den Kompositionen französischer Opernkoryphäen wie Marc-Antonie Charpentier und Jean-Philippe Rameau. Beide waren eingebunden in den Absolutismus der Glanzzeit der Bourbonen und haben doch starke Frauengestalten in ihren Opern entworfen, denen sich die schwedische Mezzo-Sopranistin mit ihrem neuen Album „L’Ombre de mon Amant“ widmet.
Marc-Antoine Charpentier (1634–1704) stammte aus Paris, lernte aber sein kompositorisches Handwerk in Rom bei Giacomo Carissimi. Einer seiner prägenden Erlebnisse war die Bekanntschaft mit dem Dichter Molière, mit dem er von 1672 an zusammenarbeitete und zahlreiche Bühnenmusiken für dessen Dramen schrieb. Bereits als erfahrener Komponist ergatterte er 1698 die begehrte Stelle als Kapellmeister der Sainte-Chapelle in Paris. Charpentier gilt heute als einer der wichtigen Meister barocker Kirchenmusik, schuf zahlreiche Oratorien, Messen, Motetten, Psalmen, Hymen und auch verschiedene Divertissements und Ouvertüren weltlicher Natur. Vielen Fernsehzuschauern ist er vor allem durch sein Prélude aus dem Te Deum in D-Dur bekannt, das als Erkennungsmelodie für Eurovisionssendungen ausgewählt wurde. Und die Opernfreunde kennen ihn als Créateur großer Bühnenwerke wie „Actis et Galathée“ (1678) und vor allem der „Medée“ (1693).
Jean-Philippe Rameau (1683–1764) hingegen gehörte bereits zur nächsten Generation des französische Barocks. Seine Hauptschaffensphase fiel in die Jahre nach Herrschaft des Sonnenköngs, auch wenn auch er eng mit dem französischen Königshaus verbunden war. Zunächst unterstützt durch reiche Freunde etablierte er sich als einer der führenden (Opern)Komponisten seiner Ära und wurde von Ludwig XV. 1745 zum „Compositeur du Cabinet du Roy“ ernannt. Seine Bühnenwerke knüpften zunächst an die „Tragédie lyrique“ im Stile eines Jean-Baptiste Lully an, erweiterte jedoch deren Ausdrucksmittel, indem er vor allem dem Text und der Sprache mehr Gewicht zumaß und auch die Rolle von Chor und Orchester im dramatischen Geschehen stärkte. Rameaus Werk umfasst nicht nur zahlreiche Opern, Klavier- und Orchesterstücke an der Grenze zum französischen Rokoko, sondern auch eine viel beachtete Harmonielehre, auf deren Grundprinzipien – die Herleitung von Akkorden über den Grundton, die Beschreibung von Akkorden über Terzschichtungen, die tonale Ordnung und Umkehrregeln – bis heute die klassische Musiktheorie aufbaut.
Kein Wunder also, dass Anne Sofie von Otter begeistert gerade auf diese harmonische Kompetenz von Rameaus Musik sich bezieht. „Die Orchesterfarben bei Rameau sind magisch“, meint sie in einem Gespräch zu ihrem aktuellen Album „L’Ombre de mon Amant“ („Der Schatten meines Geliebten“) und ergänzt: „Hören sie einfach mal darauf, wie die Flöten in ‘Phèdres’ drittem Akt eingesetzt sind. Ich finde diesen deklamatorischen Stil und die Ornamentierung enorm attraktiv. Diese Musik ist verführerisch, ohne dabei aufdringlich zu werden. Sie ist warmherzig und sehr tänzerisch.“ Die Figur der Phädra gehört daher ebenso wie die von Charpentiers Medea zu den Rollen, die Anne Sofie von Otter mit einzelnen Arien in ihrem Programm würdigt. Dazu kommen Passagen aus Rameaus Opéra-Ballet „Les Fêtes d’Hébé ou les Talents lyriques“ und drei Airs des königlichen Gesanglehrers Michel Lambert, den Ludwig XIV. zu seinem Stab zählte. Otter, die ihre Liebe zum Barock im Anschluss an eine Rameau-Gala mit Mark Minkowski in Paris vor acht Jahren wieder entdeckt, umgab sich für ihr französisches Programm mit einem erfahrenen und bereits vielfach preisgekrönten Ensemble, Les Art Florissants unter der Leitung von William Christie, das der brillanten und vielfarbigen Stimme der Solistin noch den nötigen, historisch möglichst korrekten Orchesterrahmen gibt. So ist „L’Ombre de mon Amant“ ein Album zum Zurücklehnen, das die Tür zu einer wunderbaren, ebenso leichten wie anspruchsvollen Musik öffnet. Mehr Informationen auf ihrer Künstlerseite bei KlassikAkzente.