Die Karriere Maurizio Pollinis vermittele ein Gefühl beständigen Wachstums und zielgerichteter Ausformung, schrieb einmal Edward Said: Vorgeprägt durch eine den Künsten und dem Geistesleben Italiens aufs Engste verbundene Familie entwickelte der Pianist ein universelles Verständnis für Musik und Kunst im Allgemeinen, das heute seinesgleichen sucht. Bereits als 18-Jähriger gewann er 1960 den Warschauer Chopin-Wettbewerb, in dessen Jury sich neben Arthur Rubinstein auch der legendäre russische Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus und Nadia Boulanger befanden. Doch da der Besonnene fürchtete, fortan zu sehr auf Chopin festgelegt zu werden, zog er sich vorerst zurück, um seinen musikalischen Horizont zu erweitern und auch andere Interessen, etwa für die bildenden Künste, zu vertiefen. Ganz behutsam begann Maurizio Pollini im Verlauf der Folgejahre, Konzerte auf den großen Podien der Welt zu geben.
Aufbruch
Ab Mitte der 60er Jahre entwickelte der Mitzwanziger eine fruchtbare Künstlerfreundschaft zu dem Avantgarde-Komponisten Luigi Nono und dem Dirigenten Claudio Abbado. Und auch die von intensiver politischer und intellektueller Auseinandersetzung geprägte Aufbruchstimmung in Italien und der Welt beeinflusste Pollini nachhaltig. Er begann, seine Rolle als ausübender Künstler zu hinterfragen und wendete sich verstärkt auch der zeitgenössischen Musik zu. Angeregt von der Idee, Musik und Kunst eine neue gesellschaftliche Relevanz zu verleihen, veranstalteten Pollini und seine Freunde Konzerte und Gesprächskreise für Arbeiter und Studenten an teils ungewöhnlichen Aufführungsorten. Nach und nach erweiterte der Pianist sein Repertoire um Klavierwerke der Zweiten Wiener Schule, Pierre Boulez' oder Karlheinz Stockhausens, und er spielte Uraufführungen von Werken Nonos, Manzonis und Sciarrinos.
Maurizio Pollinis Debüt auf Deutsche Grammophon
Seine Karriere als veröffentlichender Musiker beginnt Maurizio Pollini 1972 mit einem Signal künstlerischer Eigenständigkeit. Wider Erwarten debütiert er nicht mit Chopin. Stattdessen erscheint auf Deutsche Grammophon seine bald als Sensation gefeierte Einspielung zweier Meisterwerke des 20. Jahrhunderts, Strawinskys Petruschka-Transkription für Soloklavier und Prokofievs ungestüme 7. Klaviersonate. Nun erst erscheint die Chopin-Aufnahme, an der seither alle nachfolgenden gemessen werden, die Etüden op. 10 und 25. Und auch mit dieser Einspielung erregt Pollini großes Aufsehen, denn seine Interpretationen bieten eine neuartige Sichtweise an, die Chopins Tiefgründigkeit offenbaren und seine Musik von der Einseitigkeit sentimentalischer Deutungen befreien sollen. Mit unermüdlicher Neugier wendet sich Pollini seither immer wieder den Kompositionen des polnischen Komponisten zu.
Der Interpret als Vermittler
Maurizio Pollinis Selbstverständnis als Musiker ist geprägt von künstlerischer Autonomie und der leidenschaftlichen Bemühung um die Vermittlung eines Verständnisses für die Kontinuität zwischen Klassik, Romantik und Moderne. Er ist überzeugt, dass die Gegenüberstellung von Werken aus unterschiedlichen Epochen auch helfen kann, das Visionäre älterer Werke zu verdeutlichen. Darum stellt er in Konzerten immer wieder Kompositionen der Moderne neben die von ihm geschätzten klassisch-romantischen Werke, zu denen insbesondere Beethovens Klaviersonaten und -konzerte, Schuberts Klaviersonaten, die Klavierkonzerte von Brahms und teils seltener aufgeführte Klavierwerke Schumanns, wie die “Gesänge der Frühe” oder das “Concert sans orchestre” zählen.
Alfred Brendel, den mit Maurizio Pollini die tiefgreifende intellektuelle Auseinandersetzung mit Musik und die Leidenschaft für andere Künste verbindet, würdigte dessen Schaffen in einem Essay mit folgenden Worten: “Musikstücke müssen ständig neu belebt (wenn nicht wachgeküsst), sie müssen gegenwärtig werden, ohne ihre Identität zu verlieren. Eine solche Belebung der Musik sollte doch weit entfernt sein von geistiger Trägheit und kommerziellem Diktat. Idealerweise wird der Interpret sich für Vernachlässigtes ebenso einsetzen wie für die etablierten Meisterwerke und Berühmtes nicht deshalb meiden, weil es berühmt ist. In seinen Programmen ist Maurizio Pollini der Exponent einer solchen Haltung.”
Bis heute veröffentlichte Maurizio Pollini weit über 50 Alben auf Deutsche Grammophon. Auf seiner letzten, hochgelobten Studio-Einspielung aus dem Jahr 2009 wandte er sich dem ersten Buch von Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Klavier zu. Zuletzt erschien die Pollinis Live-Aufnahme von Johannes Brahms' Klavierkonzert Nr. 1 op. 11 gemeinsam mit der Staatskapelle Dresden und Christian Thielemann.
Anlässlich des 70. Geburtstags Maurizio Pollinis und des 40-jährigen Jubiläums als Exklusivkünstler veröffentlicht Deutsche Grammophon “The Art of Pollini” mit einer Auswahl seiner herausragendsten Einspielungen von Bach über Beethoven und Chopin bis hin zu Stravinsky und Webern, die gesamten Chopin-Einspielungen in der 9-CD-Box “Maurizio Pollini: Chopin” und seine in ihrem Umfang und ihrer künstlerischen Qualität einzigartige Auseinandersetzung mit der Klaviermusik des 20. Jahrhunders auf 6 CDs “Maurizio Pollini: 20th Century”.